Neues Album der "Dirty Projectors":Leiht euer Ohr einer Legende

Sie kennen Dave Longstreth nicht? Kein Problem, es ist nie zu spät, einen Popmusiker wie ihn zu entdecken. Man wird von dieser Musik erst zum Duell gefordert und dann umgesummt. Zu erleben mit "Swing Lo Magellan", dem neuen Album der "Dirty Projectors".

Karl Bruckmaier

Wie so oft, verraten uns auch bei "Swing Lo Magellan" (Domino/Good To Go Records), dem neuen Album der Dirty Projectors, die ersten 15 Sekunden einer Platte praktisch alles über die (hier) restlichen 42 Minuten. Warum das so ist? Nun, vermutlich fordert die Auswahl dieser ersten Klänge und Melodien mehr künstlerische Intuition, mehr intellektuelle Berechnung von ihren Schöpfern als, sagen wir einmal, die Stereo-Positionierung der Rhythmusgitarre in der Bridge des vierten Liedes. Es ist wie bei diesen Infos zu Bewerbungsgesprächen: Der erste Eindruck, den kann man nur einmal machen und so fort, also doch Anzug und Krawatte, aber was Freches auch.

Dave Longstreth hat sich für die durchsichtige Bluse entschieden mit nichts darunter. Ein digitaler Schlag, so ein schnelles Wischen quer übers Gesicht mit dem Handschuh, schnalz, dann summen seine Mitmusiker auf (oder er selbst, vervielfacht, verteilt), summen wie gefühllose Roboter an blechernen Schreibpulten, denen ein Hanns-Eisler-Fragment einprogrammiert worden ist, das aber zu einem Longstreth-typischen Melodie-Jaulen mutiert ist im Lauf der Jahrzehntausende - halt, was soll das sein, Longstreth-typisch? Kennen wir den überhaupt? Nun, wir sollten ihn kennen, vielleicht seit 2011, als er mit Björk ein schönes Stück Vinyl mit Drei-D-Wackel-Cover veröffentlicht hat.

Aber wer kennt noch Björk? Vielleicht seit 2009, als "Rise Above" erschien, eine Nacherfindung des berühmten Hardcore-Albums "Damaged" von Black Flag. Aber wer kennt noch Black Flag? Vielleicht seit 2005 ein von der Musik von Don Henley irgendwie inspiriertes Album namens "The Getty Address" erschienen ist? Nein, auch nicht? Also hier kurz der Infoblock, denn es ist nie zu spät, einen wie Dave Longstreth zu entdecken: Der ehemalige Yale-Student ist heute etwas über 30 und kann auf ein Jahrzehnt mit einem halben Dutzend unverwechselbarer Album-Veröffentlichungen und einer weltweit wachsenden Fangemeinde zurückblicken.

Der Eigenwilligste, der Schwierigste

Longstreth gehört grob gesprochen zu jenem Häuflein amerikanischer Exzentriker, die seit der Jahrtausendwende damit beschäftigt sind, die Songform ins 21. Jahrhundert herüber zu retten: Rufus Wainwright mag der Bekannteste sein, Yim Yames, der Konservativste, Sufjan Stevens der Begabteste und Antony mit seinen Johnsons der Geliebteste. Dave Longstreth, Sie haben es erraten, ist der Eigenwilligste, der Schwierigste.

Um ihn zu mögen, muss man ihn schon lieben. Rhythmen vergaloppieren sich unter seinen Fingern; Stimmbänder werden gerührt, geschüttelt und gezerrt, bis sie zum unverwechselbaren Longstreth-Jaulen werden; Tonarten und Kompositionstechniken langweilen Longstreth nach kürzester Zeit: fast zwanghaft muss er sie implodieren lassen oder aufpusten. Man muss Dave Longstreth bedingungslos in seine Art Musik folgen, um sie schließlich erfassen, genießen zu können. Natürlich schrecken solche Aussagen den Ersthörer - wir haben ja gerade erfahren, dass man auch auf "Swing Lo Magellan" erst quasi zum Duell gefordert und anschließend umgesummt wird. Und dass es ein Dutzend Lieder lang so weitergeht. Aber auf "Swing Lo Magellan" treten noch andere, vielleicht versöhnlichere Elemente heran, die diese ADHS-Musik zugänglicher machen. Nach den beschriebenen 15 Sekunden ist es ein tiefes, warmes Bassriff, dann ein Friedensangebot in Form von recht harmonischem "Hu-Hu-Hu"-Gesinge: Hier wird es doch nicht zum Lied kommen?

Da hat einer sauber aufgeräumt und abgerechnet

Dave räuspert sich und schwingt sich in den Sattel des Sängers - tatsächlich, jetzt scheppert so etwas wie eine Rockband im Stereospektrum. Doch, erfahrener Longstreth-Hörer: gemach, auch diese McCartney-esken Momente werden so schnell zerschnitten, als führte Tarantino Regie. Es ähnelt das Album einem gigantischen Müllfahrzeug, das hoch auf Klippen über dem Meer seine orangefarbenen Hintertürchen öffnet und alles und auf einmal und gleichzeitig und in Zeitlupe in den Ozean hinunterpurzeln lässt, was jemals als Pop gegolten hat. Da hat einer sauber aufgeräumt und abgerechnet in einem verwunschenen Haus nahe Albany im Staat New York.

Leider ist ihm auch seine Sangespartnerin Angel Deradoorian abhanden gekommen - man mag nur ahnen, wie schwierig es sein mag, mit Dave Longstreth auszukommen - aber vielleicht verdanken wir dieser Tatsache diese sehnsuchtsvollen Liebeslieder, dieses Big-Bopper-mäßige Verlangen nach wippenden Pferdeschwänzen und gestärkten Petticoats, das einen ganz fremd anweht in dieser eher kwier gestimmten Klangwelt, welche die Dirty Projectors an die Wand werfen. Von 70 neuen Songs erzählt die Plattenfirma, die seit 2011 für "Swing Lo Magellan" entstanden seien und nur zwölf hätten es auf Platte geschafft. Das ist sicher eine Falschinformation. Ganz gewiss sind alle 70 zu hören, kreuz und quer durcheinander: Wie bei jedem Romantiker, der den Namen verdient, werden die Schubläden und Festplatten leer sein, wenn dereinst der Nachlass sortiert werden muss. Alles ist auf Platte. Alles ist auf "Swing Lo Magellan". Alles ist vielleicht zu viel, aber immer mehr werden davon nicht genug bekommen können.

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