Neues Album "Art Angels":Glücksfall für den Pop

Neues Album "Art Angels": Das Gesamtkunstwerk "Grimes", hier als zart-morbides und dabei betont engelhaftes Gothic-Alien mit Tonnen weißer Schminke.

Das Gesamtkunstwerk "Grimes", hier als zart-morbides und dabei betont engelhaftes Gothic-Alien mit Tonnen weißer Schminke.

(Foto: Beggars Group)

Die Frau singt, der Mann sitzt an den Reglern? Beim neuen Album von Grimes ist alles anders. Wie die kanadische Musikerin den Feminismus vorantreibt.

Von Paul-Philipp Hanske

Wer auch nur flüchtig einmal etwas mit dem Musikgeschäft zu tun hatte, kennt diesen Typus nur zu genau: die Produzenten, Aufnahmeleiter und Toningenieure. Es sind meist etwas zerzauste Typen mit lustigen Sprüchen auf T-Shirt und Kaffeetasse, profundem "Star Wars"-Wissen und dem Herz, wie man so sagt, am rechten Fleck. Wer könnte etwas gegen diese Knöpfchendreher in ihren ergonomischen Bürostühlen haben?

Die Macht über die Regler

Etwa Claire Boucher, die Musikerin und Sängerin hinter der Kunstfigur Grimes, die gerade ihr viertes und bisher bestes Album "Art Angels" (4AD) veröffentlicht hat. Sie trieb sich jahrelang in Studios herum, hatte Angebote von unzähligen Produzenten, aber irgendwann keine Lust mehr auf dieses sehr spezielle Soziotop, in dem Frauen die Rolle der schönen (wenngleich bearbeitungsbedürftigen) Stimme zukommt, die Männer aber an den Reglern sitzen.

Claire Boucher kann und will selber die Knöpfe drehen. Und nicht nur das: Da sie auch keine Lust auf Studiomusiker hatte, lernte sie schlicht alle Instrumente, die für ihr neues Album vonnöten waren: Bass, Schlagzeug, Gitarre. Mit Synthesizern, Samplern und Drum-Machines kennt sich die 27-jährige Kanadierin ohnehin seit Beginn ihrer Karriere aus.

Pop im reinsten Sinne

Derart monomanische Einzelgänge zeichnet im Pop häufig - das ist keine Abwertung - etwas entschieden Schrullig-Autistisches aus. Das Ungewöhnliche im Falle von Grimes ist, dass auf diese Weise ein Album entstand, das im reinsten Sinne Pop ist.

An dieser Stelle steht man vor einem Problem: Denn "Art Angels" hätte verdient, dass man es nur im Hinblick auf seine musikalischen Qualitäten beurteilt und nicht als Werk einer Frau. Veröffentlicht zum Beispiel der britische Post-Dubstep-Produzent Kuedo, ein ähnlich talentierter Musiker wie Claire Boucher, hoffentlich bald sein nächstes Album, wird in keiner Rezension der Umstand thematisiert werden, dass er ein Mann ist.

Genau so könnte man über "Art Angels" berichten: über die gewagten ästhetischen Entscheidungen, etwa den manchmal etwas esoterisch anmutenden und an die Pop-Mystikerin Enya gemahnenden Oberstimmen-Gesang Bouchers (im Song "laughing and not being normal"); über die lärmenden Reminiszenzen an ihre Vergangenheit in der Noise-Szene von Montréal; über ihre Kollaboration mit der taiwanesischen Rapperin Aristophanes (in "SCREAM"), die einem Pop-Publikum die Möglichkeit von Rap auf Mandarin vorstellt; oder über Bouchers zugleich vertrackte und doch effektiv-wummsende Beat-Programmierung auf "Venus Fly". Und natürlich über all die eingängigen Hooklines, die auch nach der zehnten Wiederholung - im Gegensatz zum ordinären Ohrwurm - nicht nerven.

Das Gesamtkunstwerk Grimes

All das könnte man herausarbeiten - und würde damit doch die Pointe, worum es bei Grimes geht, verfehlen. Denn hier wird geradezu mustergültig vorgeführt, dass Pop eben nicht nur Musik ist. Grimes ist ein Gesamtkunstwerk: In den vergangenen Jahren mauserte sie sich (und hier geht es nun um die Inszenierung und nicht die Person dahinter) zu Everybody's Darling der Modeszene. Designer liegen ihr zu Füßen, ständig ziert sie Cover und Fotostrecken der interessanten Modemagazine.

Sie hat sich auf höchst kühne wie treffsichere Weise einen eigenen Stil erschaffen - aus Elementen, mit denen es ästhetisch auch hätte ordentlich schiefgehen können. Eingespeist werden: die kryptische japanische Manga-Welt, die zwischen blutigem Horror und Kuschelkätzchen-Niedlichkeit pendelt; der im Augenblick wieder sehr populäre Gothic-Style mit seinen Spitzenblusen, Körpermodifikationen und Tonnen weißer Schminke; und vor allem: eine Begeisterung für neongrelle Science-Fiction-Szenarien.

Zwischen Zartheit und Morbidität

Aus diesen Versatzstücken entsteht das Kunstobjekt Grimes, das auch eine dezidiert weibliche Figur ist. Die Folgen davon sind für Claire Boucher nicht immer leicht zu ertragen. Ein Blick in die Kommentarspalten unter Grimes' Videos offenbart schnell, dass ihre zwischen Zartheit und Morbidität changierende Inszenierung einen gewissen Typ Mann schnell Verstand und Hemmung verlieren lässt - weswegen Grimes nur noch von Bodyguards umgeben performen kann, so regelmäßig kam es zu Fan-Übergriffen auf der Bühne.

Es zeichnet Boucher jedoch aus, dass sie dies zu einer Position der Stärke umdefiniert. So gibt es auf "Art Angels" mehrere Stücke, in denen sie aggressiv gegen diese Form von Objektivierung anschreit und damit an die Selbstverständlichkeit erinnert, dass ein attraktives, fragiles oder andersweltliches Auftreten noch lange keine Einladung zur ungefragten Annäherung ist.

"Art Angels" bereichert den Pop um ein paar fantastische, immer auch etwas unheimliche Songs

Überhaupt ist "Art Angels" voll von so genannten Diss-Tracks. Enttäuschende Weggefährten, generelle Schwachmaten, vor allem aber die männlichen Produzenten, die Grimes kleinhalten wollten: alle bekommen ihr Fett weg. Diese Gesten haben etwas Trotziges, aber nichts Beleidigtes. Untermauert wird diese Emanzipation durch die Tatsache, dass Boucher "Art Angels" tatsächlich völlig im Alleingang produziert hat.

Nun wäre es vermessen, das als komplettes Novum hinzustellen. Es gibt schon lange eine Top-Produzentin wie Missy Elliott, die soeben einen großartigen neuen Track ("WTF") veröffentlicht hat. Und es gibt feministische Bands wie Sleater Kinney oder, aktueller, die Savages, die ebenfalls den Produktionsprozess in der Hand halten.

Subversiv eingängig

Das Subversive an Grimes' "Art Angels" ist jedoch gerade seine Eingängigkeit. Sie verdeutlicht, welch erstaunlichen Weg Boucher zurückgelegt hat: von der extremen Do-it-yourself-Ästhetik ihrer frühen Alben, über die düstere, durch Stimm-Experimente und Sphärenklänge geprägte Verspieltheit ihres Durchbruch-Albums "Visions" (2012), hin zur neuen Sensibilität für Mainstream-Pop. Auf "Art Angels" spielt sie raffiniert mit dem oft so schrecklichen Genre EDM, klingt gelegentlich wie eine junge Britney Spears und pumpt einige ihrer Songs voller Steroide (etwa die Hits "Flesh Without Blood" oder "Realiti").

Kurz: "Art Angels" wird in die Breite wirken. Und das Signal zur Selbstermächtigung, das von dem Album ausgeht, kann gar nicht überschätzt werden - zumal der jüngste Trend im Massenpop, der Boom des R&B, zwar musikalisch grandiose Folgen zeitigt, die alte Rollenteilung "Frau singt, Mann macht" aber noch einmal zementiert. Für all das kann man Grimes gar nicht genug feiern. Man kann sich aber auch einfach darüber freuen, dass die Heavy Rotation der großen Radiosender nun um ein paar wirklich fantastische, euphorische und doch immer etwas unheimliche Songs bereichert wird.

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