Süddeutsche Zeitung

Neues Album: Annett Louisan:Die kleine Leise

Sie kann singen und erzählen. Und außerdem ist sie jetzt brünett: die anschmiegsame, gehorsame und verständnisvolle Sängerin Annett Louisan.

Rebecca Casati

Deutsche Erfolgsmusiker; muss man nicht drüber reden, oder? Als Radiohörer haben wir die Wahl zwischen ekligem Poesiealbum-Rock (Silbermond, Ich & Ich) politisch korrektem Studenten-Rock (Wir sind Helden) oder der hirnzersetzenden Heuler-Prosa von Rosenstolz.

Zwischendurch landet man immer wieder bei einer Stimme, die eine kleine Geschichte vorträgt, und die handelt von Männern und Frauen und von all dem Sonderbaren, was da so passiert.

Das klingt simpel, ist aber selten, weil deutsche Erfolgsmusiker lieber eine Message überbringen: darüber, dass man mal irgendwem dienen muss, dass der ganze Konsum hier krank macht oder dass Liebe alles ist. In jeder Blitzmeldung steckt mehr Erkenntnis, größere Brisanz. Es sind die guten, lebensnahen, unterhaltsam vertonten Geschichten, die so oft fehlen.

Annett Louisan, heute 31, ist genau damit berühmt geworden in den letzten vier Jahren. Ohne Rock. Ohne Bombast. Und mit der leisesten Stimme von allen. Gleich ihre erste Single "Das Spiel" war ein so sonderbarer Großerfolg. Sie handelte davon, dass eine Frau es nicht ernst meint mit einem Mann, der verrückt nach ihr ist. Was, wie Louisan heute sagt, ganz unumwunden im Alice Schwarzer'schen Sinne sei.

Viele Hörer sahen das damals anders, Louisan, die sich im Video zwischen weißen Laken herumwälzte und dabei aussah wie zwölf, wurde das Ziel perverser Briefe und feministischer Attacken. Und: Sie wurde ein Star.

Liebes, müdes Manga-Mädchen

Das war vor vier Jahren. Nun erscheint bereits ihr viertes Album mit dem schönen Titel "Teilzeithippie". Es ist der erste Tag ihrer Promotionstour, und in ihrer Berliner Hotelsuite stauen sich Menschen, überkreuzen sich Vorhaben und Aktivitäten.

Der Fotograf zerwühlt das Bett, der Assistent assistiert, der Manager bestellt Getränke, die Visagistin kämmt Haarteile, die aussehen wie erlegte Hermeline. Der Zimmerkellner bringt den Cappuccino, alle paar Minuten klopft wieder jemand Neues, und Annett Louisan setzt sich aufs Bett und hinterlässt kaum eine Delle.

Wie häufig bei sehr kleinen oder sehr großen Menschen ist bei Annett Louisan die Kleidung irgendwie nebensächlich, sie trägt braune Stiefelchen, blaue Puffärmelchen, sowieso kann man sich das -chen ab sofort überall dazudenken. Die einzige Stelle, an der das nicht passt, ist ihr linker Nasenflügel. Da ist ein Loch, in dem wohl mal ein Piercing steckte.

Annett Louisans Stimme ist so klar wie: ja, eben. Was ist denn eigentlich heutzutage noch so klar? Sie wählt und prononciert die Sätze und Antworten sorgfältig, manchmal fast andächtig, so als habe sie soeben überraschend im Dreck einen schönen Ring entdeckt.

"Es ist ja immer schwierig mit den Händen", sagt sie gerade zu dem Fotografen und legt sie dann um das weiche Gesicht. Es gibt ein berühmtes Herb-Ritts-Foto, ein Plattencover, auf dem Madonna dasselbe tut wie jetzt Louisan: Sie sitzt auf der Hotelbettkante, mit einem Kissen im Hintergrund, stützt den Ellenbogen auf das Knie, legt das Kinn in die linke Hand. Obwohl Madonna damals Micky-Maus-Ohren trug, wirkte sie hart wie Kruppstahl.

Bei Louisan denkt man an ein liebes, müdes Manga-Mädchen, das niemandem den Raum stehlen will. Anschmiegsam, gehorsam, verständnisvoll, ohne Egozentrik.

Lesen Sie auf Seite 2, warum "Größe" auch bei Frauen ein sexueller Pluspunkt ist.

Später wird ein Team von Bunte anrücken, Louisan in Second-Hand-Klamotten stecken und sie, bei 15 Grad und Ostwind, auf einer Picknickdecke im Tiergarten arrangieren, und natürlich wird sie dabei eine Gitarre halten. Das soll zu "Teilzeithippie" passen, macht aber vor allem klar, dass das Leben eines deutschen Popstars heute weit weg ist von Bohème. Es besteht aus Hotelzimmerüberdecken, Synthetikverkleidungen, und unter Umständen kriegt man auch einen toten Hermelin an den Kopf getackert.

"Bohème", damit erklärt Louisan gerne sich, ihre Ästhetik, ihren Fluchtpunkt, Bohème hieß auch ihre erste Platte. Louisan raucht sehr viele Zigaretten der Mädchen-Marke Gauloises Blondes. Sie liebt Paris, natürlich die Filme, und erst recht die Chansons.

Sie liebt Prosecco, "der ist, finde ich, sogar leckerer als Champagner." Aus ihrer Tasche ragt eine DVD, Antonionis "Blow Up": "ein Meisterwerk!" Und dass sie Sängerin, also tatsächlich das geworden ist, was sie immer werden wollte? "Das ist mein persönliches Großstadtmärchen."

Das alles sind Sätze, die gar nicht gehen. Weil man sie schon sooo häufig gehört hat, diese Geschichten, von Frauen, die barfuß ihren Jaguar lenkten und ja, hachgott . . . Es ist aber mit diesen Äußerungen so wie mit Annett Louisans Liedzeilen; wenn man sie aus ihrem Mund hört, mit ihrer Stimme und ihrer sorgfältigen Betonung, sind sie frisch, überzeugend, extracharmant. Jemand, der so spricht, ist einfach im Recht. Darauf mit Ironie zu reagieren, ist sinnlos und spielverderberisch.

Man will sie an die Hand nehmen

Zwei Wochen später steht Annett an der zugigen Oranienstraße in Berlin- Kreuzberg. Hierher ist sie gerade gezogen, von Blankenese aus, wo sie sich eine Wohnung gesucht hatte, weil sie die Aussicht vom Treppenviertel so schön fand. Wohin sie aber nie so recht gepasst hatte.

Bis hierher konnte man es professionell gut unterdrücken, aber es ist leider - Doktor Konrad Lorenz! - tatsächlich so: Wenn man an einer vielbefahrenen Straße steht mit ihr, will man sie an die Hand nehmen und ein Stückchen zurückziehen. Abschirmen. Kindchenschema. Schnell eine blöde Frage hinterher: Fühlt sich jemand wie sie eigentlich jederzeit sehr klein, beim Warten, Singen und Straßeüberqueren?

"Na ja, ich werde ständig dran erinnert." Wollte sie denn mal größer sein? "Nein, als Frau ist das ein sexueller Pluspunkt." Wieso das denn? "Ein Mann hätte es schon schwieriger, als Frau nicht."

Man denkt: Oh nein! Sag' das jetzt nicht, kleine Annett! Das ist das, was die Leute damals so in Wallung gebracht hat: kleines Bienchen, das die großen Männer ansummt! Aber dann setzt sie auch schon ein, die Beißhemmung: Sie meint es nicht so. Es ist - wie war das damals? - nur ein Spiel. Und dass man hin und wieder zusammenzuckt, das heißt wahrscheinlich nur, dass es funktioniert.

Lesen Sie auf Seite 3, worin Annett Louisan den Unterschied zwischen Männern und Frauen sieht.

Louisans Lieder, ihre Geschichten, handeln vor allem von Männern und Frauen. Da sie meistens aus der Ich-Perspektive geschrieben sind, glauben viele, es seien vertonte Geständnisse. Dann muss Louisan wieder erklären, dass die Geschichte von ihrem betrunken auf Ebay verkauften BH authentisch, aber nicht autobiographisch ist.

Vor Jahren hat ein Journalist Louisan mal eine Frage gestellt, bei der sie nicht schnell genug oder eben auch zu schnell reagiert hat. Nämlich: Was ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen? "Was soll man da für eine vernünftige Antwort drauf geben? Damals habe ich jedenfalls gesagt: die multiplen Orgasmen. Natürlich ohne zu überlegen. Was das für Beschimpfungen auslöst! Ich hab Briefe bekommen! Man glaubt es nicht."

Doch. Man glaubt es sofort, bei einer kleinen blonden Frau, die über Sex und Seitensprünge singt und aussieht wie zwölf. Man könnte das auch jetzt weiterverfolgen. Und darauf kommen, dass Louisan fast dieselbe Vokalabfolge hat wie Lolita. Und dass Annett Louisan in ihren Videoclips häufig im Bett entweder sitzt oder aber rumtollt.

Aber es ist so langweilig. Denn sie kann ja was, nämlich singen. Und erzählen. Und außerdem ist sie ja jetzt auch brünett. So wie früher.

Louisan, die eigentlich Annett Päge heißt, ist ein Wendekind. Sie wuchs in Schönhausen an der Elbe auf, einem Nest mit 3500 Einwohnern. Sie und ihre Mutter wohnten in einem Plattenbau, Annetts Zimmer war ein Schlauch, Schränke, Bett und eine Tür mit alten Abba-Aufklebern. Die hatte das Kind hinterlassen, das vor Annett in dem Schlauch gewohnt hatte.

Ein blauer Walkman als Wendegeschenk

Annett kannte Abba nicht. Aber die Aufkleber gingen nicht ab und wurden Teil ihrer Kindheit. Obwohl sie lieber Michael Jackson und die Beatles hörte, auf NDR2, dem Westsender, den man in Schönhausen empfangen konnte.

Klingt etwas trostlos, war es wohl auch. Den Vater hat Annett bis heute nicht kennengelernt. Sie war, wie sie sagt, ein klassischer One-Night-Stand, und sie ist, wie sie sich beeilt zu sagen, nicht traurig darüber. Dank ihrer Mutter, die vieles ausglich und alles verstand.

Annett las viel oder sah fern oder träumte von der nächstgrößeren Welt: "Es fing gerade an, dass ich sie vermisste, und dann fiel auch schon die Mauer." Annett war zwölf und verfolgte das Ereignis mit ihren Großeltern vor dem Fernseher, fassungslos und ein bisschen verängstigt. Abends kam ihre Mutter heim und brachte ihr einen blauen Walkman mit, da wusste Annett, dass das alles nicht falsch sein konnte.

Schon als Kind hat sie gemerkt, dass man mit Musik und Stimmen Menschen berühren kann. Sprache, Phonetik, das klare Formulieren waren ihr seither wichtig, ebenso das Hochdeutschsprechen. Als sie kurz nach dem Mauerfall mit ihrer Mutter nach Hamburg zog, half ihr das, nicht gleich als Ostkind aufzufallen.

Lesen Sie auf Seite 4, warum die kleine Sängerin keine gute Nachbarin ist.

Nach der Schule zog sie von WG zu WG, begann ein Studium an der Hamburger Kunstakademie und machte das, was man so macht mit Anfang 18 in Hamburg: auf dem Kiez ausgehen, das erste Mal an Joints ziehen, sich einen Job suchen und von einer Karriere als Popstar träumen.

Louisan verschickte Demos und suchte die Nähe von Musikern. Auf einer Party traf sie dann Frank Ramond, einen mehr oder weniger erfolgreichen Schlagertexter. Und damit begann ihr heutiges Leben als Annett Louisan.

Ramond, der muss sie gesehen und erkannt haben, mit ihren knapp 1,50 Metern, in der engen Wohnung, ihrem großen Traum von Paris und einer Karriere als Sängerin. Und in ihrer Fähigkeit, eine Geschichte so rüberzubringen, dass man zuhört. Ramond muss erkannt haben, dass man von dieser kleinen Welt eine größere würde ableiten können.

Sie lachten viel an diesem Abend und immer über dieselben Pointen, und Annett erklärte ihm ihre Idee von der Musik, die sie machen wollte: Die Texte sollten deutsch, aber nicht überkandidelt, also zu gefühlvoll sein. Die Musik sollte handgemacht sein, intim, auf keinen Fall überproduziert. Sie wollte nicht nur dieselben drei Reime benutzen, die alle benutzen. Sie wollte eine Mischung aus Poesie und Alltagssprache, sehr sexy und lustig, eine Mischung, die sie, Annett, widerspiegelte, die Welt, in der sie sich bewegte und auch die, von der sie träumte. Sie sollte Bohème sein.

Gemeinsam erfanden die beiden etwas, das in Frankreich Tradition hat und in Deutschland lange Zeit nicht zur Form fand: gesungene Beziehungsgeschichten. Nicht kitschig, sondern pointiert, nicht pathetisch, sondern alltagsnah, ironisch, sogar sarkastisch.

Ein provisorisches Leben

So erscheint nun nach vier rasend erfolgreichen Jahren mit Hunderten Konzerten ihre vierte CD "Teilzeithippie" in einer Zeit, in der kaum noch jemand CDs kauft. Balladen, Swing, Blues, ein bisschen Country - aber das Wichtigste bleiben Louisans Stimme und Ramonds Texte und die Geschichten über Beziehungsgestörte, Egoisten, Blender, Trickser, Trottel: über uns alle.

Dass die Musikindustrie gerade zusammenkracht, dass dort kaum noch Geld zu verdienen ist, darüber darf man gar nicht nachdenken, sagt Louisan, sonst geht man keine Risiken mehr ein. Oder man wird gleich verrückt. Das Gute sei: Sie habe sich ihr Publikum live erspielt. "Und live ist die große Chance, die einzige realistische, die ich momentan sehe."

Derweil lebt Louisan ihr Leben weiter: vier Zimmer, Schlafzimmer mit Blick auf das Engelbecken, hohe Decken, Stuck. Es steht allerdings kaum was drinnen, denn "bei mir muss alles ganz provisorisch sein. Ich habe Angst, Möbel zu kaufen, die zu viel wert sind, dann kann man sie nicht mehr weggeben, weil sie ja so teuer waren."

Eine gute Nachbarin ist sie leider auch nicht. Denn sie ist ein Nachtmensch, und häufig kommen andere Nachtmenschen zu Besuch, und alle machen Musik bis in den frühen Morgen.

Wenn sie verreist, fährt sie nicht etwa an die Côte d'Azur; sie fährt drei Tage mit dem Fahrrad in einen Nationalpark an die Ostsee. Sie ist verheiratet, getrennt und neu verliebt. In einer Zeit, in der das Popstarsein immer schwieriger wird, ist das alles wahrscheinlich die Lösung: ein Leben, in dem Geschichten die Wirklichkeit erzählen und in dem die Ostsee Paris ersetzt. La Bohème.

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Quelle:
SZ vom 18./19.10.2008/jb
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