Süddeutsche Zeitung

Neuer Roman von Ulrike Draesner:Salzige Suppe

Lesezeit: 3 min

Seelische und körperliche Grenzerfahrung: In Ulrike Draesners virtuoser Extremsport-Novelle "Kanalschwimmer" geht ein Mann gewissen Alters ins Wasser, um allein von England nach Frankreich zu schwimmen.

Von Christoph Bartmann

Nur zögernd findet der Extremsport Eingang in die Literatur, auch wenn er, mit Iron Man und Seven Summits, allgegenwärtig ist, wenn auch meist nur als Wunschtraum einer gutbürgerlichen Selbstüberwindung "am Limit" und jenseits davon. Was sich alles so abspielt in einem Dauerläuferhirn, wenn der Organismus auf Stress schaltet, kann man etwa in Günter Herburgers legendärem Protokoll "Lauf und Wahn" nachlesen. Herburger, selbst Ultraläufer, hatte erlebt, wovon er schrieb. Auch Ulrike Draesners neues Buch "Kanalschwimmer" erzählt so intensiv und immersiv von einem sportlichen Kraft-und Extremakt, dass man denken könnte, die Autorin sei die, je nachdem, sieben bis 24 zermürbende Stunden von Dover nach Calais selbst geschwommen.

Das ist sie nicht, aber nah dran an Charles' Erleben ist sie trotzdem. Charles, so heißt der Kanalschwimmer, Biochemiker in Oxford, ist einer der nicht so wenigen Männer, die heutzutage in vorgerücktem Alter ganz plötzlich zur Tat schreiten. Nicht zur Straftat zulasten anderer, sondern eben zu einem extremsportlichen Gewaltakt gegen sich selbst und gegen die Welt, die einen nicht besser vor sich selbst geschützt hat. Charles, einem Mittelständler der Wissenschaft und des Lebens, ist auf einmal die Ehefrau abhandengekommen. Maude, Klavierlehrerin in London, hat ihn abrupt verlassen, für Silas, seinen besten Freund.

Eine komplexe Vorgeschichte von zwei englischen Schwestern und ihren zwei Ehemännern oder Liebhabern ist dabei, während Charles das trübe Gewässer quert, und schwimmend soll diese Vergangenheit von Charles irgendwie bewältigt werden. Warum sollte er sich den Wahnsinn sonst antun, wenn nicht, um am englischen Ufer heiler anzukommen, als er es einen Tag zuvor verlassen hat?

Draesner sucht eine poetische Sprache für körperliche und seelische Grenzerfahrungen

Ulrike Draesner hat sich viel vorgenommen für diesen schmalen Roman, den man eher eine Novelle nennen möchte. Erstens die minutiöse Vergegenwärtigung der Kanalüberquerung, im Blick auf die Zumutungen für den Schwimmer, aber auch mit genauer Beobachtung von Wolken, Wind und Wellen. Und zweitens die Anamnese, aus der hervorgeht, was Charles zu diesem auto-aggressiven Schritt veranlasst hat.

Die beiden Fragen, die den Leser in Atem halten werden, heißen: Schafft es Charles, mitsamt dem vorgeschriebenen Beiboot Henry, tatsächlich bis nach Frankreich? Und welchen Aufschluss wird uns die Vorgeschichte über die Ursachen seines Unglücks liefern? Ulrike Draesner schafft es spielend, unser Interesse an diesen Fragen wach zu halten, während sich der bedauernswerte Charles durch die dreckige Salzbrühe arbeitet.

An erzählerischen Mitteln, um dieses maritime Seelendrama in Szene zu setzen, fehlt es Draesner weiß Gott nicht. "Kanalschwimmer" ist ein Virtuosenstück. Schon der erste Satz zeigt, was ihr an Kunstfertigkeit zur Verfügung steht: "Mit mildem Gelb durchsetztes frisches Blattlicht fiel von der Böschung vor dem Küchenfenster auf Boden und Tisch." Das ist ein brillanter ästhetischer Effekt, gegen den unsere eigene Wahrnehmungskapazität leider ein wenig abfällt: Wie sieht ein frisches Blattlicht aus, das mit mildem Gelb durchsetzt ist? Und wieso überhaupt eine Böschung vor dem Küchenfenster? Nun, die Autorin gibt die Erklärung wenige Sätze später selbst. Die Küche "befand sich im Souterrain wie üblich bei viktorianischen Küchen." Ulrike Draesner weiß viel, kann viel, und sie stellt manchmal auch ihre Brillanz ein wenig aus. An anderen Stellen ist sie dann einfach brillant - vor allem, wenn sie die delirierende Psyche des Kanalschwimmers sozusagen hackt und extremen Zuständen zur Sprache verhilft.

Der Stil ist experimentell, unablässig sucht Draesner nach neuen Bildern

Irgendwann auf See, heißt es einmal, "schmolz die Zeit ihm bislang verborgene Wellenflanken, Gehirnflanken, Erinnerungsflanken hinab. Etwas in seinem Kopf wurde noch immer nur fügsamer, weicher". Hier und anderswo erforscht und erweitert Draesner die Grenzen einer poetischen Sprache für körperliche und seelische Grenzerfahrungen. Auch wenn die erzählte Geschichte durchaus Freude am Konventionellen entwickelt (das gutbürgerliche Ehedrama, die Helden- und Verzweiflungstat des Gatten und so fort), ist Draesners literarisches Vorgehen experimentell. Unablässig sucht sie nach neuen Bildern, neuen Wörtern, die der Realität der Kanalschwimmererfahrung nahekommen könnten.

Diese Abenteuerlust im Sprachlichen hebt Draesners Buch über den Verdacht hinweg, es gehe hier doch letztlich nur um Selbstfindungsprobleme von Männern eines gewissen Alters. Am Ende steigert sich ihr Text in einen fast ekstatischen Hymnus auf die elementaren Gewalten. "Die flüssige Kraft des Wassers strahlte", heißt es da etwa, "dabei war das Kanalmeer selbst nicht diese Kraft, sondern enthielt ihre aus der Tiefe entlassene Unberechenbarkeit als Strömung nach eigenem Willen." Dem schon früh entkräfteten Charles werden diese Worte bestimmt nicht durch den Kopf geschossen sein. Aber zum Glück steht ihm eine Dichterin zur Seite. Ob Charles wohl das andere Ufer erreicht haben wird? Ulrike Draesner wäre nicht die Virtuosin, die sie ist, wenn sie auf diese Frage nur eine Antwort gäbe.

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Quelle:
SZ vom 04.12.2019
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