Süddeutsche Zeitung

Neuer Roman von T. C. Boyle:Radikal am Rand

Wie geht ein Kollektiv unter Druck mit Abweichlern um? In seinem neuem Roman "Hart auf hart" treibt T. C. Boyle die Selbstbestimmung des Individuums auf die Spitze.

Von Christoph Schröder

Auf einer Landstraße in der Gegend um Ukiah, rund 100 Meilen nördlich von San Francisco, liest Sara ihn auf, einen jungen Mann mit kahl rasiertem Kopf und in einer Art Tarnanzug. Sara glaubt, den Mann zu kennen, aber woher? Etwas ist anders an ihm, seltsam, er antwortet zögerlich, wenn überhaupt, wirkt apathisch.

Bis ein Polizeiwagen an ihnen vorbeifährt und Leben in den Mann kommt. "Wichser", schreit er immer wieder und streckt beide Mittelfinger aus dem Seitenfenster. "Spinnst du", ruft die Frau, und bekommt wieder keine Antwort, sondern nur ein versteinertes Gesicht zu sehen, und da erkennt sie ihn: Ob er nicht Adam sei, der Sohn von Sten Stensen. Der Mann dreht noch nicht einmal den Kopf zu ihr und antwortet: "Ich heiße Colter." Und damit ist schon eine der vielen Parallelwelten dieses Romans, vielleicht sogar die entscheidende, eröffnet.

Wie so oft schildert Boyle die großen Reizthemen der USA aus der Sicht des Außenseiters

T. C. Boyle hat sich schon immer für die großen Themen der amerikanischen Gegenwart interessiert, seien es der Gesundheitswahn oder die sexuelle Prüderie, sei es die Grenzpolitik zum Nachbarland Mexiko, sei es der fahrlässige Umgang mit den Ressourcen der Natur. Doch anders als beispielsweise ein John Updike beschreibt Boyle gesellschaftliche Zustände nicht aus der Perspektive der bürgerlichen Mitte, sondern aus der Position des Außenseiters heraus, des vermeintlichen oder tatsächlichen Freaks. So ist es auch in seinem neuen Roman, in dem wiederum vom Rand her Druck auf die Normalität erzeugt wird und in dem vor allem auf unterschiedlichen Ebenen eine zentrale Frage verhandelt wird: Wie steht es um die Freiheit des Einzelnen im Land der Freien, wenn ein Normen setzendes Kollektiv seine eigene Freiheit bedroht sieht?

Sten Stensen ist hochdekorierter Vietnam-Veteran und Schuldirektor im Ruhestand. Ein Choleriker vor dem Herrn noch dazu. Zusammen mit seiner Frau Carolee hat er sich ein hübsches Häuschen in Mendocino gekauft, mit Meerblick. Hin und wieder spielt er Golf. In der Eröffnungsszene des Romans werden er und seine Reisegruppe während einer Kreuzfahrt bei einem Landausflug in Costa Rica von drei bewaffneten jungen Männern überfallen. Sten nutzt eine Unachtsamkeit und bringt einen der Räuber mit bloßen Händen um, die beiden anderen fliehen. Sten ist der Held der Gruppe. Das Töten sitzt als Reflex in ihm. So einem nimmt man nicht einfach etwas weg.

Sein Sohn Adam, der nur noch Colter genannt werden will, dagegen ist ein Problemfall, schon immer gewesen. Adam lebt im Haus seiner verstorbenen Großmutter. Drumherum hat er eine hohe Mauer ohne Tür gebaut, um sich vor Aliens und Asiaten zu schützen. Wenn er das Gelände verlassen will, klettert er über die Mauer. Seine Nachtsichtbrille hat er immer bei sich.

Die dritte Hauptfigur, die Boyle in ein Spannungsverhältnis zu den beiden Stensen-Männern setzt, heißt Sara Hovarty Jennings; sie ist vierzig Jahre alt, geschieden und schlägt sich als Gelegenheitslehrerin und Hufschmiedin durch, vor allem aber ist sie bis unter den Scheitel munitioniert mit Verschwörungstheorien und Wut auf den Staat und seine Einrichtungen, auf die von Kommunisten beherrschte Presse, auf die Polizisten, "die Handlanger der illegitimen Regierung des Amerikas der Konzerne".

Sara nimmt Adam als Anhalter mit; zwischen den beiden entspinnt sich ein Verhältnis, das auf grundsätzlichen Missverständnissen beruht: Sara sieht in Adam einen Verbündeten im Kampf gegen die staatlichen Organe, die in ihren Augen die Ideale der amerikanischen Verfassung verraten und aus Menschen unfreie Bürger gemacht haben; Adam dagegen denkt längst in ganz anderen Kategorien. Bei ihr ist es Liebe, bei ihm Trieb.

Krank, autistisch, schizoid

Die Parallelwelten, die Boyle entwirft, befinden sich allesamt im selben Land, den USA, im selben Staat Kalifornien, aber auf unterschiedlichen Zeitebenen: Adams Widerstand ist grundsätzlich und nicht institutionell gedacht; sein Idol ist der Trapper und Waldläufer John Colter, der im späten 18. Jahrhundert den Kampf gegen die Blackfoot-Indianer führte. Sara mag eine Renegatin sein, doch Adam hat schlicht einen gefährlichen Riesenknall. Wenn man diese Ferndiagnose wagen darf, ist er ein kranker Mann mit autistischen und schizoiden Zügen.

Die Grenzen werden von Boyle sorgsam vermessen: Wie und wo kann man sich ungestört bewegen? Wozu kann man gezwungen werden? Zur Impfung seines Hundes? Zum Einbau einer Tür in eine Mauer? Zum Vorzeigen eines Führerscheins? Zum Abschluss einer Krankenversicherung? Ist derjenige, der sich aus der Mitte herausbegibt, automatisch krank? Müssen Abweichler sanktioniert werden? Was in "Hart auf hart" in sprachlich sorgfältig getrennter Rollenprosa aufeinanderprallt, sind grundverschiedene Definitionen eines selbstbestimmten Lebens, die sich in der Figurenkonstellation spiegeln. Dass der Roman nichts Statisches hat, sondern im Gegenteil eine ungeheure Dynamik entwickelt, liegt daran, dass T. C. Boyle ein süffiger und unterhaltsamer Erzähler ist, der die mentale Gestimmtheit seiner Charaktere in den Alltagsdetails zu verankern weiß und der noch dazu in Dirk van Gunsteren einen ausgezeichneten Übersetzer hat.

Erzähltechnische Finessen sind Boyles Sache nicht; "Hart auf hart" ist in einer sturen Und-dann-und-dann-Chronologie abgehandelt. Das wiederum ist auch eine logische Konsequenz der Perspektive, denn am Ende, es kann gar nicht anders sein, muss die öffentliche Ordnung wiederhergestellt sein. Adam alias Colter wird zum Mörder und spielt in den nordkalifornischen Wäldern eine Zeit lang ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Sten wiederum ist Mitglied einer Bürgerinitiative namens "Unser Wald gehört uns". Auch hier also ein ungleicher Kampf zwischen Individuum und Interessengemeinschaften. Dass es von Beginn an keinen Zweifel daran gibt, wer ihn gewinnen wird, entspricht dem Weltbild des Autors. So bleiben nur vereinzelte Verlierer zurück.

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Quelle:
SZ vom 04.02.2015/cag
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