Neuer Roman von Haruki Murakami:Harmonie ist nicht alles

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Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami 2009 in Barcelona. (Foto: dpa)

"Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki", der neue Roman von Haruki Murakami, ist ein großes Buch voller Ruhe und Spannung. Es erzählt von einem schrecklichen Geheimnis und der Verbindung zwischen Menschen, die sich zwischen Wunde und Wunde, von Schmerz zu Schmerz, von Schwäche zu Schwäche einstellt.

Von Burkhard Müller

Fünf Elemente kennt das japanische Denken. Vier davon fallen auch einem Europäer problemlos ein: Erde, Wasser, Feuer, Luft. Das fünfte aber gehört dem Osten allein. Es ist die Leere, das am schwersten zu greifende, und doch die eigentliche Quintessenz.

Fünf Freunde haben sich in diesem neuen Buch von Haruki Murakami zusammengefunden, noch während ihrer Schulzeit. Sie genießen die Vorstellung, dass ihr Bund sich in vollkommener Harmonie vollzieht, wie es Menschen nur selten gelingt. Alles unternehmen sie gemeinsam, geradezu ungehörig wäre es, wenn sich etwa zwei privat treffen wollten. Drei sind Jungen, zwei Mädchen - aber die erotische Komponente, die sich bei einer solchen Gruppe von Siebzehnjährigen sonst wohl automatisch einstellen würde, wird von allen sorgsam ausgeblendet, aus Furcht, die vollkommene Fünfzahl zu gefährden.

Vier der Freunde tragen Nachnamen, in denen japanische Farbbezeichnungen enthalten sind: Akamatsu, die Rotkiefer; Oumi, blaues Meer; Shirane, weiße Wurzel; Kurono, schwarzes Feld. Abkürzend allein mit diesen Farben rufen sie einander: Zwei der Jungs heißen Aka und Ao, Rot und Blau also, die beiden Mädchen Shiro und Kuro, Weiß und Schwarz. Nur der fünfte, Tsukuru Tazaki, hat nichts Buntes im Namen, der einfach so viel wie "Macher" bedeutet. Darunter leidet er sehr.

Ungewöhnlich, aber glaubwürdig

Aus seiner Sicht und aus dem Nachhinein wird der Roman erzählt, der darum auch den Titel trägt: "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" - im japanischen Original, wohl noch umständlicher: "Shikisai wo motanai Tazaki Tsukuru to, kare no junrei no toshi". Alles scheint also auf eine kosmologische Parabel zuzusteuern. Dass das Buch diese Dimension nicht verliert und dennoch eine zwar ungewöhnliche, aber glaubwürdige und in der alltäglichen Erfahrung wurzelnde Geschichte herauskommt, ist der Kunst Murakamis zu verdanken.

Gibt es einen anderen lebenden Autor, der so ruhig und knapp und gleichzeitig mit so viel emotionaler Kraft zu erzählen vermag wie er? Man braucht kein Japanisch zu können, um zu spüren, wie seine Übersetzerin Ursula Gräfe diese gewiss schwer zu vermittelnde Qualität auch im Deutschen zur Entfaltung bringt. In Murakamis mehrbändigem Riesenwerk "1Q84" war Platz für mancherlei Schnörkel und Längen gewesen. Davon ist hier jede Spur getilgt; trotz seiner mehr als 300 Seiten bewegt sich das Buch mit der unbeirrten Geradlinigkeit einer Novelle.

In seinem Mittelpunkt steht ein trauriges und schreckliches Geheimnis. Das Buch setzt ein sechzehn Jahre nachdem der Freundschaftsbund zerbrochen ist. Tsukuru hatte damals als einziger der fünf ihre gemeinsame Heimatstadt Nagoya zum Studium verlassen und war nach Tokio gegangen. Nagoya ist zwar mit mehr als acht Millionen Einwohnern der drittgrößte städtische Ballungsraum Japans, aber sein Name taucht im Ausland wenig auf. Es scheint so etwas wie das unbeachtete Normal-Japan zu verkörpern, urban zugleich und provinziell, wo Leute ohne besonderen Ehrgeiz ein behagliches Leben führen können. Doch als Tsukuru eines Tages zu Besuch heimkehrt (nur eineinhalb Stunden mit dem ultraschnellen Shinkansen-Express), findet er alles verändert.

Gezwungen, dem alten Geheimnis nachzugehen

Seine Freunde haben sich von ihm radikal abgewandt, sie lassen sich am Telefon verleugnen und verweigern ihm jede Erklärung: Er wisse schließlich selbst am besten, was los ist. Aber er weiß es nicht und versinkt in eine tiefe Depression. Er isst nicht mehr und denkt jeden Tag an den Tod.

Nach und nach gelingt es ihm wieder, ein einigermaßen geregeltes Leben zu führen, er geht ganz in seinem Beruf als Ingenieur von Bahnhöfen auf, schwimmt jeden Tag eine große Strecke und bleibt ansonsten einsam, ohne dass er noch besonders darunter litte - bis er im Alter von 36 auf die ein wenig ältere Sara trifft. Sie merkt, dass mit diesem Mann, den sie sehr mag, etwas nicht stimmt, und ermutigt, ja zwingt ihn geradezu, dem alten Geheimnis nachzugehen.

So wird es, trotz der großen Ruhe seines Tons, ein sehr spannendes Buch. Zuerst sucht Tsukuru die beiden anderen Männer auf, Aka und Ao, was nicht weiter schwer ist, denn sie sind in Nagoya geblieben und betreiben einen Handel für Autos der Marke Lexus respektive eine erfolgreiche Beratungsfirma; den Kontakt miteinander haben sie längst verloren. Von den beiden hört Tsukuru endlich, was sein damaliges Vergehen gewesen sein soll: Shiro hat ihn vor den anderen bezichtigt, sie bestialisch vergewaltigt zu haben.

Dass das nicht stimmt, glauben sie ihm erst jetzt. Aber von seiner Schuld fühlt sich Tsukuru dennoch nicht erlöst, denn von Shiro hat er bis in die Gegenwart intensiv erotische Träume. Es ist also etwas dran an dieser Behauptung, nur eben nicht das, was alle gemeint haben. Tsukuru erfährt, dass Kuro nunmehr in Finnland lebt, und dass Shiro in ihrer Wohnung einem grässlichen Mord zum Opfer gefallen ist - weder einem Raub- noch einem Lustmord, das Motiv bleibt dunkel und der Täter wurde nie gefasst. Das Rätsel, halb gelöst, beginnt sich neuerlich zu vertiefen.

Tsukuru, Mann der Eisenbahnen, der noch nie geflogen ist, entschließt sich, nach Finnland zu reisen, um Kuro aufzusuchen; der Leser, der ahnt, dass sie den Schlüssel zum Ganzen in der Hand hat, wird mit den Details der Reise aufs schönste hingehalten. Wie Murakami die Freundlichkeit eines Landes einem einsamen Fremden gegenüber darzustellen weiß, und sei es nur in Gestalt einer unerwartet wohlschmeckenden Pizza, gehört zu den unscheinbaren Höhepunkten des Buchs.

Er findet Kuro in ihrem Haus an einem See, wo sie mit ihrem finnischen Mann, den zwei Töchtern und einem lustigen Hund den Sommer verbringt. Und ja, Tsukuru erfährt, was er wissen will. Nur so viel sei gesagt, dass es sich um etwas Ungeheuerliches handelt, das ihm aber dennoch hilft, den erstarrten Kern seines Wesens endlich aufzuschmelzen. Auch gehen ihm die Grenzen ihres alten gemeinsamen Ideals auf.

Ein Körnchen Ungewissheit

Harmonie ist nicht alles, und schon gar nicht die tiefstmögliche Verbindung zwischen Menschen, welche sich vielmehr, wie es hier heißt, zwischen Wunde und Wunde, von Schmerz zu Schmerz, von Schwäche zu Schwäche einstellt. Nach der Begegnung steht endlich der Weg offen für Tsukurus eigenes Liebesglück - obwohl ein Körnchen Ungewissheit bleibt, das einem Buch wie diesem gut ansteht. Ganz geheimnislos endet es nicht.

Die emotionale Kraft dieses Buchs ist nicht leicht zu verorten. Am meisten konzentriert sie sich in den Dialogen. Da es schwerfällt, direkt davon zu sprechen (und Japanern anscheinend noch mehr als anderen), nehmen die Gefühle den Umweg über die Dinge. Man lernt bei Murakami viel über dieses japanische Ding-Universum, in dem erlesene Einzelstücke die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Kuro (die sich inzwischen lieber bei ihrem eigentlichen Vornamen Eri nennen lässt) und ihr Mann sind Töpfer geworden; jeder von beiden hat seinen eigenen Stil gefunden, der ihn ganz ausdrückt. Lang verweilen Tsukuru und die Erzählung bei diesen Kunstwerken aus Keramik. Er nimmt eines zur Hand und spricht von sich selbst als einem leeren Gefäß: So fühle sich sein Leben an.

",Und selbst wenn du ein leeres Gefäß bist, was macht das schon?', sagte Eri. 'Dann bist du eben ein ganz wunderbares, attraktives Gefäß. Wer kennt schon die Wahrheit über sich selbst? Es genügt doch, ein Gefäß mit einer wunderschönen Form zu sein. Das so unwiderstehlich ist, dass man unwillkürlich Lust bekommt, etwas hineinzutun. Meinst du nicht?' Tsukuru dachte nach. Er verstand, was Eri sagen wollte."

Auch die Musik spielt in diesem japanischen Kosmos offenbar eine solche Ding-Rolle, besonders die titelgebenden "Années de Pèlerinage" von Liszt; sie hilft den Menschen in diesem Buch dabei, einander zu verstehen, indem sie etwas in die Leere hineintun. Jenseits der ganzen modernen Technologie scheint sie das eigentliche Geschenk Europas an dieses von Natur aus verschlossene asiatische Land gewesen zu sein: ein Element, das ihm bis dahin gefehlt hatte.

Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Buchverlag, Köln 2014. 350 Seiten, 22,99 Euro, E-Book 18,99 Euro.

© SZ vom 11.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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