Fünf Elemente kennt das japanische Denken. Vier davon fallen auch einem Europäer problemlos ein: Erde, Wasser, Feuer, Luft. Das fünfte aber gehört dem Osten allein. Es ist die Leere, das am schwersten zu greifende, und doch die eigentliche Quintessenz.
Fünf Freunde haben sich in diesem neuen Buch von Haruki Murakami zusammengefunden, noch während ihrer Schulzeit. Sie genießen die Vorstellung, dass ihr Bund sich in vollkommener Harmonie vollzieht, wie es Menschen nur selten gelingt. Alles unternehmen sie gemeinsam, geradezu ungehörig wäre es, wenn sich etwa zwei privat treffen wollten. Drei sind Jungen, zwei Mädchen - aber die erotische Komponente, die sich bei einer solchen Gruppe von Siebzehnjährigen sonst wohl automatisch einstellen würde, wird von allen sorgsam ausgeblendet, aus Furcht, die vollkommene Fünfzahl zu gefährden.
Vier der Freunde tragen Nachnamen, in denen japanische Farbbezeichnungen enthalten sind: Akamatsu, die Rotkiefer; Oumi, blaues Meer; Shirane, weiße Wurzel; Kurono, schwarzes Feld. Abkürzend allein mit diesen Farben rufen sie einander: Zwei der Jungs heißen Aka und Ao, Rot und Blau also, die beiden Mädchen Shiro und Kuro, Weiß und Schwarz. Nur der fünfte, Tsukuru Tazaki, hat nichts Buntes im Namen, der einfach so viel wie "Macher" bedeutet. Darunter leidet er sehr.
Ungewöhnlich, aber glaubwürdig
Aus seiner Sicht und aus dem Nachhinein wird der Roman erzählt, der darum auch den Titel trägt: "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" - im japanischen Original, wohl noch umständlicher: "Shikisai wo motanai Tazaki Tsukuru to, kare no junrei no toshi". Alles scheint also auf eine kosmologische Parabel zuzusteuern. Dass das Buch diese Dimension nicht verliert und dennoch eine zwar ungewöhnliche, aber glaubwürdige und in der alltäglichen Erfahrung wurzelnde Geschichte herauskommt, ist der Kunst Murakamis zu verdanken.
Gibt es einen anderen lebenden Autor, der so ruhig und knapp und gleichzeitig mit so viel emotionaler Kraft zu erzählen vermag wie er? Man braucht kein Japanisch zu können, um zu spüren, wie seine Übersetzerin Ursula Gräfe diese gewiss schwer zu vermittelnde Qualität auch im Deutschen zur Entfaltung bringt. In Murakamis mehrbändigem Riesenwerk "1Q84" war Platz für mancherlei Schnörkel und Längen gewesen. Davon ist hier jede Spur getilgt; trotz seiner mehr als 300 Seiten bewegt sich das Buch mit der unbeirrten Geradlinigkeit einer Novelle.
In seinem Mittelpunkt steht ein trauriges und schreckliches Geheimnis. Das Buch setzt ein sechzehn Jahre nachdem der Freundschaftsbund zerbrochen ist. Tsukuru hatte damals als einziger der fünf ihre gemeinsame Heimatstadt Nagoya zum Studium verlassen und war nach Tokio gegangen. Nagoya ist zwar mit mehr als acht Millionen Einwohnern der drittgrößte städtische Ballungsraum Japans, aber sein Name taucht im Ausland wenig auf. Es scheint so etwas wie das unbeachtete Normal-Japan zu verkörpern, urban zugleich und provinziell, wo Leute ohne besonderen Ehrgeiz ein behagliches Leben führen können. Doch als Tsukuru eines Tages zu Besuch heimkehrt (nur eineinhalb Stunden mit dem ultraschnellen Shinkansen-Express), findet er alles verändert.
Gezwungen, dem alten Geheimnis nachzugehen
Seine Freunde haben sich von ihm radikal abgewandt, sie lassen sich am Telefon verleugnen und verweigern ihm jede Erklärung: Er wisse schließlich selbst am besten, was los ist. Aber er weiß es nicht und versinkt in eine tiefe Depression. Er isst nicht mehr und denkt jeden Tag an den Tod.
Nach und nach gelingt es ihm wieder, ein einigermaßen geregeltes Leben zu führen, er geht ganz in seinem Beruf als Ingenieur von Bahnhöfen auf, schwimmt jeden Tag eine große Strecke und bleibt ansonsten einsam, ohne dass er noch besonders darunter litte - bis er im Alter von 36 auf die ein wenig ältere Sara trifft. Sie merkt, dass mit diesem Mann, den sie sehr mag, etwas nicht stimmt, und ermutigt, ja zwingt ihn geradezu, dem alten Geheimnis nachzugehen.
So wird es, trotz der großen Ruhe seines Tons, ein sehr spannendes Buch. Zuerst sucht Tsukuru die beiden anderen Männer auf, Aka und Ao, was nicht weiter schwer ist, denn sie sind in Nagoya geblieben und betreiben einen Handel für Autos der Marke Lexus respektive eine erfolgreiche Beratungsfirma; den Kontakt miteinander haben sie längst verloren. Von den beiden hört Tsukuru endlich, was sein damaliges Vergehen gewesen sein soll: Shiro hat ihn vor den anderen bezichtigt, sie bestialisch vergewaltigt zu haben.