Neuer Roman des Literaturnobelpreisträgers Llosa:Gut geölt, aber ohne Herzblut

In seinem Roman "Der Traum des Kelten" scheitert der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa an der Biographie eines irischen Abenteurers. Roger Casement führte um die vorletzte Jahrhundertwende ein wildes Leben. Seine Homosexualität und sein Nationalismus bringen Llosa als Autor in Schwierigkeiten.

Merten Worthmann

Mario Vargas Llosa gehört zu den leistungsfähigsten Architekten und Tragwerksplanern der zeitgenössischen Literatur. Seit er in den 60er Jahren den "totalen Roman" proklamierte, hat er immer wieder komplexe erzählerische Gerüste aufgerichtet, die mühelos Jahrzehnte, Generationen oder Kontinente umspannten. Bei der Vergabe des Literaturnobelpreises 2010 hat sicher auch diese Ingenieurskunst eine Rolle gespielt, obwohl die Akademie vor allem Vargas Llosas "Kartographien von Machtstrukturen und seine nachdrücklichen Bilder von Widerstand, Revolte und Niederlage des Individuums" hervorhob, also die gesellschaftliche Relevanz seiner Stoffe.

Neuer Roman des Literaturnobelpreisträgers Llosa: Autor Mario Vargas Llosa: Genug Herzblug und Haltung für ein wildes Leben?

Autor Mario Vargas Llosa: Genug Herzblug und Haltung für ein wildes Leben? 

(Foto: AFP)

Im neuen Roman treffen die beiden Seiten von Vargas Llosas Ambition abermals aufeinander. "Der Traum des Kelten" handelt vom bewegten Leben des Iren Roger Casement, der als Abenteurer in Afrika anfing, als Diplomat im Dienst der britischen Krone zu einem bedeutenden Menschenrechtsaktivisten aufstieg und schließlich wegen Hochverrats im Dienst der irischen Unabhängigkeitsbewegung 1916 von den Briten hingerichtet wurde, nachdem interessierte Kreise im letzten Moment zu allem Überfluss noch seine intimen homosexuellen Tagebücher bekannt gemacht hatten.

Eine schillernde Gestalt fürwahr - und Vargas Llosa stellt gleich eingangs auf dieses Schillern scharf, indem er das Buch mit einem Zitat einleitet: "Jeder von uns ist, sukzessive, nicht einer, sondern viele. Und diese Persönlichkeiten, die eine aus der anderen hervorgehen, zeigen untereinander die sonderbarsten und verblüffendsten Kontraste." Das Zitat stammt vom Uruguayer José Enrique Rodó, einem Zeitgenossen Casements. Im 21. Jahrhundert klingt es nicht mehr sonderlich originell. Hat man das Buch aber erst einmal hinter sich, dann offenbart es eine zweite Funktion. Es legt insgeheim Zeugnis ab von der Schwierigkeit Vargas Llosas, die verschiedenen Fluchtlinien seiner historisch, sagen wir: abwechslungsreichen Figur in eine architektonisch überzeugende Form zu überführen - eine, die auch literarisch gewinnbringend ist.

Eines immerhin steht früh fest: Das Leben Roger Casements bietet eine Menge Stoff. Insbesondere von seinen zwei großen humanitären Expeditionen liest man auch heute, mehr als 100 Jahre später, noch mit großer Spannung. Casement war 1884 als abenteuerlustiger 20-jähriger Waise nach Afrika gegangen, um den Europäern in der Wildnis bei ihrem großen Zivilisierungsprojekt zu helfen. Der naive Glaube an die hehren Ziele der Kolonialisierung kam ihm bald abhanden, die eigene Moral nicht. 1903 unternahm er als britischer Konsul in Boma eine gewagte Expedition an den Oberlauf des Kongo, um Berichten über die unmenschlichen Bedingungen bei der Kautschukernte nachzugehen. Die bestialische Ausbeutung ansässiger Stämme mithilfe von Mord und Folter unter der "Schirmherrschaft" des belgischen Königs Leopold II. hielt Casement in einem Dossier für seine Regierung fest, das bald einen internationalen Skandal auslöste.

Die "irische Brigade" mit deutscher Hilfe

Nach weiteren Konsularposten in Brasilien wiederholte er 1910 seinen Coup mit zwei Reisen in den peruanischen Urwald. Dort dokumentierte er den an Völkermord grenzenden Umgang mit den Indiovölkern durch die Handlanger des bedeutenden britischen Kautschuk-Unternehmens Peruvian Amazon Company. Erneut sorgte sein Bericht für großes Aufsehen; die Firma kam zu Fall. Als die britische Krone ihn 1911 in den Ritterstand erhob, hatte sich Casement innerlich längst vom Empire losgesagt.

Auf immer radikalere Weise stritt er nun für Irlands Unabhängigkeit. Ende 1914 ließ er sich nach Deutschland einschleusen, denn seiner Meinung nach konnte ein Aufstand in Irland nur Erfolg haben, wenn er in Koordination mit einer deutschen Militäraktion gegen England stattfände. Deutsche Militärs halfen ihm zudem beim (vergeblichen) Versuch, aus irischstämmigen britischen Kriegsgefangenen eine "Irische Brigade" zu schmieden, die am Tag X den Aufständischen beispringen könnte. Eine konzertierte deutsch-irische Aktion kam am Ende nicht zustande. Casement fiel kurz nach seiner Überfahrt Richtung Irland auf einem deutschen U-Boot der britischen Polizei in die Hände. Der irische Osteraufstand 1916 wurde blutig niedergeschlagen.

Vargas Llosas Roman beginnt und endet im Londoner Pentonville Gefängnis. Dort empfängt Casement kurz vor seiner Hinrichtung letzte Besucher, knüpft lose Bande mit dem Aufseher, überlässt sich seinen Erinnerungen. Jedes zweite Kapitel spielt in der Todeszelle, während der Autor ansonsten weitgehend chronologisch die drei großen Blöcke "Der Kongo", "Der Amazonas" und "Irland" abschreitet, einen knappen Abriss der Kindheit eingangs nicht vergessend.

Schon früh bemerkt man, wie routiniert und flüssig Vargas Llosa sein Material ordnet und einsortiert. Man bemerkt es allerdings mit Missfallen. Denn immer wieder verfällt der Autor in den Ton eines braven, floskelhaften, allzu beflissenen Biographen, der viel Stoff gepflegt durchmoderiert, jedem wichtigen Aspekt den ihm gebührenden Raum gibt, sich aber nie an etwas festbeißen, in etwas hineinwühlen mag - als sei Casements Leben für den versierten Romancier vor allem ein Organisationsproblem nach Art des Kofferpackens: Wie schichten wir so, dass alles unterkommt?

Mehrfach holt Vargas Llosa zu jenen gediegenen Panoramaschwenks über historisches Gelände aus, wie man sie sonst eher aus populären Geschichtsmagazinen kennt. Aber ein geschickt geraffter Überblick, so sehr er auch der Situierung des Lesers dienen mag, hat nun mal einen anderen Puls als ein Roman. Dessen Problem ist, dass seinen Autor an der vielfältigen Persönlichkeit Casements wohl eher die Vielfalt als die Persönlichkeit interessierte. Jedenfalls breitet er deren verschiedene Seiten schlicht neben- oder nacheinander aus statt sie auf ein selbst geschaffenes Magnetfeld hin auszurichten. Wenn Roger Casement mehrere Menschen in einem ist, dann entscheidet sich Vargas Llosa für keinen von ihnen.

Das Versagen des Autors vor dem Nationalisten

Erschwerend kommt hinzu, dass die packendsten, erschütterndsten Passagen jene sind, in denen Casement im Kongo und am Amazonas den Schlächtern und ihren Opfern begegnet. Letztlich geht es dort jedoch weniger um ihn als um das, was er sieht und hört und später bezeugen wird. Zwar verzichtet Vargas Llosa nicht auf die ethische und psychologische Durchdringung des Geschehens. Aber weit treibt er sie nicht. Die "Habgier" macht hier den Menschen zur Bestie - und die Verrohung droht andere anzustecken. Auf beiden Reisen gerät Casement angeblich an den Rand des Wahnsinns und befürchtet selbst zu verrohen, wenn er nicht bald das Weite sucht. Doch die entsprechenden Stellen des Romans halten diese Gefahr eher protokollarisch fest, als sie spürbar zu machen.

Vollends versagt Vargas Llosa vor dem fanatischen Nationalisten Casement, der Deutsche wie Iren idealisiert, um die Briten besser hassen zu können. Natürlich lässt der Autor seine Hauptfigur mehrfach die gedankliche Parallele zwischen den unterjochten Schwarzen und Indios und den kolonisierten Iren ziehen. Darüber hinaus aber beschränkt er sich auf den detaillierten Nachvollzug von Casements aktivistischen Manövern und verzichtet nahezu vollständig auf jede reflexive Vertiefung. Das stellt für den erklärten Anti-Nationalisten Vargas Llosa eine seltsame Nichteinmischung dar. Mitunter scheint es, als habe der Autor am Nationalisten nurmehr Dienst nach Vorschrift versehen wollen und ihm deshalb jede nachdrückliche Profilierung stur verweigert.

Eine ganz und gar unglückliche Figur macht Vargas Llosas schließlich beim Versuch, sich betont beiläufig an Casements Homosexualität heranzupirschen. Erst bringt er eine verdeckte Andeutung, dann eine offene, dann eine sehr knapp und unbeholfen einmontierte Sexszene. Später werden flüchtige Begegnungen in dunkler Nacht gelegentlich mit expliziten Zitaten aus Casements "Black Diaries" angereichert - um wie nebenbei klar zu machen, dass der zum Tode Verurteilte nach Bekanntwerden der Notate jede Aussicht auf eine etwaige Begnadigung verwirkt hatte. Im Grunde interessiert Vargas Llosa die Sexualität seines Helden nur in dieser einen fatalen Hinsicht. Der späte Skandal drückt sie ihm sozusagen hinterrücks noch mit in den Stoff hinein - aber eigentlich scheint ihn das Thema im Fluss der "öffentlichen" Biografie eher zu stören.

W.G. Sebald hat Roger Casement in "Die Ringe des Saturn" ein paar Seiten gewidmet und dort vermutet, dass es "möglicherweise gerade die Homosexualität Casements war, die ihn befähigte, über die Grenzen der gesellschaftlichen Klassen und der Rassen hinweg die andauerende Unterdrückung, Ausbeutung, Versklavung und Verschrottung derjenigen zu erkennen, die am weitesten entfernt waren von den Zentren der Macht". Das ist eine fragwürdige These. Aber immerhin, eine These! Mario Vargas Llosas gut geölte Romanmaschinerie bringt zwar auf 450 Seiten ein detailreiches Modell von Casements Leben zustande. Doch der Autor versäumt vollkommen, es mit Herzblut oder Haltung zu beseelen.

MARIO VARGAS LLOSA: Der Traum des Kelten. Roman. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 445 Seiten, 24,90 Euro.

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