Süddeutsche Zeitung

Über den "Neuen Materialismus":Theorie für die Wirklichkeit

Die Denkrichtung des "Neuen Materialismus" wird immer populärer. Klima- und Naturkatastrophen dienen ihr als Beweise dafür, dass die Realität doch nicht sozial konstruiert ist. Lässt sich die Gegenwart so tatsächlich besser verstehen?

Von Johanna-Charlotte Horst

Wasserfluten zerstören Existenzen und hinterlassen Unmassen an Schlamm. Hitzewellen führen zu ausgetrockneter Erde und selbst die Bauern in Ostfriesland sorgen sich um ihren zukünftigen Gemüseanbau. Immer mehr Menschen machen konkrete Erfahrungen mit der Klimakrise. Sie ist schon lange kein Zukunftsszenario mehr.

Es kann nicht verkehrt sein, dass nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Geisteswissenschaften auf diesen globalen Umbruch reagieren. Veränderte Situationen erfordern eine Veränderung im Denken. So unternehmen derzeit Philosophen, Literaturwissenschaftlerinnen, Soziologen und Historikerinnen immer vehementer den Versuch, dem klimatischen Umbruch intellektuell hinterherzukommen. Die wohl wichtigste Strömung in diese Richtung stellen Katharine Hoppe und Thomas Lemke in einer neuen Junius-Einführung mit dem Titel "Neue Materialismen" vor.

Aus Sicht der neuen Materialisten, liest man dort, ist das Anthropozän längst am Ende. Wir befinden uns bereits mitten im posthumanistischen Zeitalter, in dem der Mensch nicht mehr viel zu melden hat. Die Unterwerfung der Natur galt einst als Zeichen menschlicher Zivilisation. Nun zeigt sich in ihren Folgen die barbarische Seite dieser Unternehmung. Will man das alles verstehen, dann muss man über die Verknüpfung von Mensch und Natur nachdenken. Die neuen Materialisten sprechen in diesem Zusammenhang von einem Netzwerk mit menschlichen sowie nicht-menschlichen Knotenpunkten.

Dabei wählen nicht alle neuen Materialistinnen explizit den Klimawandel als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Jane Bennett, eine der bekanntesten Vertreterinnen dieser Denkrichtung, berichtet etwa von einem Stromausfall, der 2003 in Nordamerika zum Zusammenbruch diverser Infrastrukturen führte und das Alltagsleben ganzer Regionen lahm legte. Diese Ereignis soll die Macht der Dinge beweisen.

Auch wenn ein lokaler Stromausfall kaum mit der globalen Klimakrise zu vergleichen ist, lässt sich aus beiden Fälle ähnliches lernen. Man kann die Krisen unseres gesellschaftlichen Lebens nur verstehen, wenn man größere Zusammenhänge in den Blick nimmt. Nicht ein einzelner Bösewicht konnte den Stromausfall herbeiführen. Ebensowenig erklären allein die rußenden Schlote industrialisierter Gesellschaften den Klimawandel. Mit eindimensionalen Kausalketten kommt man hier nicht weit. In den komplexen Wechselspielen zwischen Mensch und Natur ist die Unterscheidung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wirkkräften sinnlos geworden. So zumindest behaupten fast alle neue Materialisten.

Doch wie neu ist das Neue hier tatsächlich? Um den Klimawandel zu verstehen, muss die Geschichte der Industrialisierung nachvollzogen werden. Wie das geht, kann man immer noch am besten von Marx lernen. Dessen ökonomische Analysen gehen bereits von wechselseitigen Bedingtheiten aus. Bei ihm ging es immer schon um ein Verhältnis zwischen Natur und Mensch, das ganz und gar nicht linear, sondern dialektisch gedacht wurde. Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird in Marx' Materialismus als Effekt von Dynamiken begriffen, die im Alltag verdeckt bleiben. Deshalb war es ja auch notwendig, gesellschaftliche Erscheinungen nicht einfach für die Wahrheit zu halten, sondern sie zu analysieren. Nur dann lässt sich auch erkennen, wie Unterdrückung und Macht funktioniert.

Dass Gesellschaften von der Natur abhängen, wusste auch schon der alte Materialismus

Hoppe und Lemke ist das offensichtlich nicht unbekannt. Zum Abschluss jedes Kapitels wird die ethische bzw. politische Dimension der vorgestellten Positionen problematisiert. Gute Antworten finden sich leider kaum. Es wird am Ende auch niemand geringerem als dem Vater des historischen Materialismus das Wort gegeben. Da wird noch einmal festgestellt, wie wichtig es ist, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu verändern. Nachdem die Autorinnen bis dahin fast nichts über die Geschichte des Materialismus gesagt haben, kommt das ein wenig überraschend. Aber verwunderlich ist es nicht. Denn dass Gesellschaften mit dem Materiellen bzw. der Natur zusammen-, wenn nicht gar von ihr abhängen, darüber sind im alten Materialismus schon viele Seiten gefüllt worden.

Die Abgrenzung zum Marxismus scheint den neuen Materialisten kaum der Mühe wert zu sein. Trotz der Übernahme des Namens, ist die Geschichte materialistischer Theorien ein blinder Fleck. Die distanzierende Geste, die in dem Adjektiv 'neu' steckt, richtet sich augenscheinlich vor allem gegen poststrukturalistische Positionen. Doch der Poststrukturalismus öffnet mindestens so viele verschiedene Perspektiven wie die neuen Materialismen.

Gemein ist so unterschiedlichen Denkern wie Jacques Derrida und Michel Foucault die Praxis, sicher geglaubte Strukturen in Frage zu stellen. Diese Kritik führt bei ihnen freilich nicht mehr unbedingt zum Sozialismus. Doch es geht auch hier noch darum, natürlich Erscheinendes als soziale Konstruktion zu entlarven. Dass die so freien wie flotten Gelegenheitsphilosophen daraus das Mantra vom frei flottierenden Signifikanten ableiten, dafür können die Poststrukturalisten nichts. Es handelt sich um ein Missverständnis.

Die Klimakrise scheint das Ende des Poststrukturalismus zu besiegeln

Aus diesem Missverständnis erwächst gegenwärtig aber der Wunsch nach mehr Bodenständigkeit. Man möchte die Welt nicht mehr wie einen Text entziffern müssen. Angesichts brutaler Naturkatastrophen scheint es weder angemessen noch hilfreich zu sein, danach zu fragen, auf welche Weise einzelne Erscheinungen sozial konstruiert sind. Von dieser Beobachtung geht auch ein bei Matthes & Seitz erschienener Band mit dem Titel "Literaturtheorie nach 2001" aus. In der Einleitung ist von einem "Wunsch nach größerer 'Handfestigkeit'" die Rede. Die einfachen Anführungszeichen lassen allerdings schon ahnen, dass nicht ganz klar ist, worin diese bestehen soll.

Wie die Lektüre der einzelnen Kapitel dann zeigt, geht es vor allem um handfeste Methoden. Die Herausgeber des Bandes stellen fest, dass es ihrem Fach, der Literaturwissenschaft, an Orientierung fehlt. Desorientierung kann produktiv sein, muss es aber nicht. Sich im Denken zu reorientieren, führt im besten Fall zu neuen Erkenntnissen. Zumal, wenn es so ernsthaft wie in "Literaturtheorie nach 2001" zugeht.

Der Band resultiert aus einer zweijährigen Lektürerunde von Studierenden, die sich aktuelle theoretische Texte vorgenommen haben. Die Beiträge widmen sich zentralen Grundbegriffen literaturwissenschaftlicher Debatten. Da findet sich ein Kapitel zur Autorschaft, zu Form aber auch zu weniger offensichtlich literaturwissenschaftlich relevanten Gegenständen wie Körper oder Grenze. Dabei wird nicht so getan, als ob bereits ein Überblick oder gar eine Beurteilung über die gerade erste geschriebenen Theorien möglich sei. Stattdessen wird "die literaturtheoretische Gegenwart in einer vorläufigen Konstellation" dargestellt.

Die Rede vom sozial Konstruierten leugnet nicht die Existenz von Natürlichem

Die Frage, was Materialität heute bedeuten kann, ist den Herausgeberinnen einen sechsseitigen Eintrag wert. Er bringt die Probleme der neuen Materialismen auf den Punkt. Da es hier um Literaturtheorien geht, fragen sich die Autorinnen, welchen spezifischen Beitrag diese Strömung für den Umgang mit literarischen Texten leisten kann. Die Autorinnen beobachten, dass die Literaturwissenschaft in einem "metaphysischen und unterkomplexen Pantheismus der lebendigen Materie zu versinken" droht. Diese Gefahr besteht nicht nur für die Philologen unter den neuen Materialisten.

Poststrukturalistische Denker wussten das im übrigens. Es ist ein intellektueller Kurzschluss, ihnen vorzuwerfen, überall nur noch soziale Konstrukte und gar nichts Konkretes mehr zu sehen. Im Gegenteil soll die Rede von sozial Konstruiertem vor allem zeigen, dass nicht alles, was natürlich scheint, auch natürlich ist. Wer Naturalisierungen in Frage stellt, leugnet keineswegs die Existenz von Natürlichem.

Wenn man genau hinschaut, dann kann man zum Beispiel beobachten, dass nicht alle Frauen auf zärtliche Weise fürsorglich sind. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Definition von Weiblichkeit als zärtliche Fürsorge eine soziale Konstruktion ist. Wer das erkannt hat, verneint noch lange nicht, dass es fürsorgliche Frauen gibt. Und er leugnet auch nicht, dass die Untersuchung von Verhaltensweisen zu den Aufgaben der Biologie gehört.

Das Schlusswort bekommt der alte Marxismus

Das alles wird aber nur sichtbar, wenn man ganz genau hinschaut. Man könnte auch sagen, wenn man die Wirklichkeit auf ihre Gemachtheit hin analysiert. Wer das nicht macht, der kann vor den Dingen nur staunend verharren. So ergeht es denjenigen neuen Materialisten, die ihre Theorie objektorientierte Ontologie nennen. Hoppe und Lemke machen keinen Hehl aus ihren Zweifeln an dieser Theorie. Sie habe "leider wenig mit der sozio-materiellen Wirklichkeit zu tun". Das klingt nicht vielversprechend.

Wer intellektuelle Orientierung sucht, dem sei die Lektüre von "Literaturtheorie nach 2001" sehr ans Herz gelegt. Wer danach weiterlesen möchte, der greife zur Einführung in die "Neuen Materialismen". Aber Obacht! Dieses Buch muss zu Ende gelesen werden. Denn sonst erfährt die Leserin nicht, worauf die Kritik des Autorenpaars hinausläuft. Es ist bereits verraten worden: Der alte Marxismus bekommt die Schlussworte in den Mund gelegt. Damit wird die gegenwärtige Theorie zum Glück doch noch in ihren historischen Kontext eingebettet. Standfest ist besser als einfach nur handfest. Auch das kann man von den Alten lernen, die einem immer noch fröhlich zurufen: Historicise, historicise!

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