Neuer Roman von Henning Mankell:Fatale Suche nach der Wahrheit

Bisweilen bricht die Rassistin in ihr durch. Dann wieder hilft sie schwarzen Prostituierten. Henning Mankell erzählt in seinem neuen Roman von einer schwedischen Bordellbesitzerin im kolonialen Afrika. Die filmreife Handlung ist kaum zu glauben und trotzdem wahr - zumindest ein bisschen.

Tim Neshitov

Henning Mankells jüngster Afrika-Roman, "Erinnerung an einen schmutzigen Engel", beruht auf einer wahren Begebenheit. Oder, wie Mankell im Nachwort schreibt, "auf einer Wahrheit". "Es kann eine große oder eine kleine Wahrheit sein, sie kann glasklar oder fragmentarisch sein. Aber trotzdem ist da immer etwas, was auf wirklichen Ereignissen beruht, und in meinem Buch führt es dann zur Fiktion."

Neuer Roman von Henning Mankell: Mankells Heldin erkennt: Das Gefängnis ist nicht das Bordell selbst, sondern die Rolle, in welche die Prostituierten hineingeboren wurden.

Mankells Heldin erkennt: Das Gefängnis ist nicht das Bordell selbst, sondern die Rolle, in welche die Prostituierten hineingeboren wurden.

(Foto: AFP)

Eine Wahrheit, schreibt Mankell, denn die Wahrheit gibt es für ihn nicht, wenn es um Ereignisse geht, die so weit zurückliegen wie der Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Als er sein Buch schrieb, wusste Mankell lediglich, dass um die vorletzte Jahrhundertwende eine Schwedin das größte Bordell in Lourenço Marques besaß, dem heutigen Maputo, der Hauptstadt Mosambiks.

Da sie eine wichtige Steuerzahlerin war, wurde ihre fiskalische Existenz von portugiesischen Kolonialbeamten penibel dokumentiert. Henning Mankell, der die kalten Jahreszeiten in Mosambik verbringt, hat sich mit diesen Dokumenten im kolonialen Archiv von Maputo vertraut gemacht. Das Vorleben seiner Heldin, samt Kindheit in Schweden und einer tragischen Seefahrt, erfand er. Sie heißt bei ihm Hanna Renström.

Die Wahrheit gibt es für Mankell auch im Hier und Jetzt nicht, und das ist das große Thema dieses Romans. Der Glaube, im Besitz der Wahrheit zu sein, führt zu Fanatismus und nicht selten zu Verbrechen, wie im kolonialen Afrika.

Die Suche nach der Wahrheit kann Menschen an der Welt und an sich selbst verzweifeln lassen - und eine fesselnde Lektüre abgeben. Mankells Hanna Renström ist eine Suchende. Sie sucht erst nach einem Ausweg aus der Armut ihrer kalten nordschwedischen Heimat, verlässt eine Welt, in der ihr Vater ihr zuflüstert, bevor er stirbt: "Hanna Renström, meine Tochter, du bist ein Engel, ein schmutziger, aber dennoch ein Engel."

Sie heuert als Köchin auf einem Schiff an, das Holz nach Australien bringen soll, und begegnet einem Steuermann, dem sie nahe sein will. "Jeder Augenblick, der in der Erwartung verging, dass er hinter der Kombüse auftauchte, wurde zu einer immer stärkeren Sehnsucht."

Flucht vor den Erinnerungen

Sie heiraten, und als der Steuermann an einer tropischen Krankheit stirbt, verlässt auch Hanna das Schiff. Sie flieht vor ihren Erinnerungen und lässt diese weiter Richtung Australien fahren. In Lourenço Marques, dem ostafrikanischen Hafen, in dem sie an Land geht, beginnt ihre eigentliche Suche. Die nach sich selbst und nach einer Wahrheit, mit der sich die stumpfe Brutalität des Kolonialregimes erklären ließe. Sie scheitert an dieser Suche, und sie wächst daran.

Hanna sucht zuerst passiv, sie landet in einem Hotel namens "Paradies", das sich als Bordell entpuppt. Sie lässt Ereignisse auf sich zukommen. Nach einer Fehlgeburt - eine schmerzliche Erinnerung an den Steuermann - wird sie von einer portugiesischen Krankenschwester mit dem sehr christlichen Namen Ana Dolores gepflegt. Diese Schwester sagt: "Die Schwarzen sind nur Schatten von uns. Sie haben keine Farbe. Gott hat sie schwarz gemacht, damit wir sie in der Dunkelheit nicht sehen müssen. Und wir sollten auch nie vergessen, woher sie gekommen sind."

Zu ihrer eigenen Überraschung heiratet Hanna den impotenten Bordellbesitzer und wird nach seinem Tod steinreich. Sie freundet sich mit dem hauseigenen Affen namens Carlos an, der weiße Kellnerkittel trägt, Zigarren raucht und im Schlafen gemütlich vor sich hin rülpst.

"Gott ist weiß"

Sie behandelt ihre schwarzen Prostituierten (weiße gibt es nicht) besser als alle anderen Bordellbesitzer in der Kolonie. Sie setzt sich für die Freilassung einer schwarzen Frau ein, die ihren weißen Mann erstochen hat. Der Mann galt als ehrlicher Geschäftsmann, aber er verschwieg seiner Frau, die ihm zwei Kinder gebar, dass er eine zweite Familie in Portugal hatte.

Hanna sucht nun aktiv, sie führt Tagebuch. "Gott ist weiß. Das habe ich mir wohl immer schon vorgestellt. Aber nie so deutlich wie jetzt."

Die filmreife Handlung dient Mankell nur als Erzählgerüst und Afrika als eine Kulisse, vor der menschliche Abgründe und Höhenflüge deutlich werden. "Meine Geschichte gründet sich auf das wenige, was wir wissen, und all das, was wir nicht wissen", schreibt er im Nachwort, und eigentlich ist es eine Einladung, Hanna Renströms Geschichte noch einmal von vorne zu lesen, falls man sie nur als historisches Melodram gelesen hat.

Als solches kann man sie durchaus lesen. Eine schüchterne blasse Schönheit entdeckt weit weg von zu Hause den eigenen Mut und setzt sich in einer staubigen, schweigsamen Welt durch, bewahrt aber ihre verwundbare Menschlichkeit.

So weit die Synopsis. Zwischen dieser Handlung und der reflexiven Ebene zieht Mankell Brücken ein, die bisweilen wie Asphaltstraßen im Dschungel wirken. Auf Seite 308 schreibt er über den Affen, der auf den Seiten davor immer menschlicher geworden ist: "Ana hatte verstanden, dass Carlos genauso weit weg von zu Hause war wie sie selbst. Vielleicht strömte ein Fluss mit kaltem braunem Wasser auch durch die Wälder, in denen er geboren worden war?"

Hanna heißt zwischendurch in portugiesischer Manier Ana, das gehört zur Suche nach sich selbst. An einer Stelle, als sie versucht, Isabel zu befreien, die schwarze Mörderin, schreibt Mankell: "Sie schloss das Tagebuch, löschte die Petroleumlampe und blieb im Dunkeln sitzen. Sie dachte: Isabel in ihrem furchtbaren Kerker. Und ich in einer anderen Art von Gefängnis eingesperrt."

"Was geschieht mit einem Affen, der kein Affe mehr sein will?"

Hannas Gefängnis ist nicht die schwüle, mückenverseuchte Hafenstadt. Die könnte sie mit dem nächsten Schiff verlassen. Es ist die Kette von Verwandlungen, die sie durchmacht, und deren Sinn sie nicht begreift. "Hanna dachte: Was geschieht mit einem Affen, der kein Affe mehr sein will? Und kann das auch mit einem Menschen geschehen? Dass er nicht mehr der sein will, der er ist?"

Zwischendurch entdeckt sie die Rassistin in sich, dann die Verantwortung für die schwarzen Prostituierten, dann die Liebe zu Isabels Bruder Moses, einem Minenarbeiter, der ihr beibringt, was sie, eine Ungebildete, nicht weiß: Dass Kohle und Diamanten aus demselben Grundstoff bestehen.

Aber sie kämpft nicht für diese Liebe, sie verschwindet einfach aus dem Hotel, in dem Moses sie zuletzt besuchte. Er nannte sie dabei Ana Negra, die schwarze Ana. "Niemand hat sie je wieder gesehen."

Henning Mankell: Erinnerung an einen schmutzigen Engel. Roman. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012. 353 Seiten, 21,90 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: