Neuer Krimi von Don Winslow:Die Lust, die Verkommenheit zu verfolgen

New York Police Department officers stand on 5th Avenue in New York

Beamte des New York Police Department stehen auf der 5th Avenue in Manhattan (Symbolbild)

(Foto: REUTERS)

Don Winslow schreibt Bücher wie Actionfilme. In "Corruption" rückt die amerikanische Polizei in seinen Fokus - und ein krasser Antiheld, der so skrupellos wie sympathisch ist.

Von Tobias Kniebe

Der Prolog der Geschichte hat kaum begonnen, da werden schon Pumpguns gezückt, Türen gesprengt, Blendgranaten geworfen und ein Jackpot geknackt: siebzig Kilo Heroin, fünfzig Millionen Dollar Verkaufswert, der bisher größte Drogenfund in den Annalen von New York City.

Don Winslow liebt Actionszenen, er schreibt sie schnell und sparsam, manchmal so knapp wie Haikus. Sie sichern ihm seinen Stammplatz auf den Bestsellerlisten und zeugen von einer gewissen Gier nach der Drastik des Realen, für die seine Romane "Tage der Toten" und "Das Kartell" berühmt geworden sind. Darin ging es um die Paten und die Todesschwadronen des mexikanischen Drogenkriegs.

In seinem neuen Werk "The Force", hierzulande in merkwürdig englischer Schreibweise als "Corruption" im Handel, agieren allerdings keine wild gewordenen Kartellkiller, sondern amerikanische Polizisten. Allen voran Detective Dennis "Denny" Malone - achtzehn Jahre im Dienst, Sohn eines Cops aus Staten Island, breite Schultern, irische Wurzeln. Wenn der Zugriff auf einen Großdealer erfolgt, geht er immer als Erster rein, so auch diesmal, und dann fordert er den ertappten dominikanischen Drogenkönig auf, seine Waffe herauszurücken. Was dieser auch tut. Ganz ruhig und geradezu mustergültig greift er langsam und vorsichtig in sein Armani-Sakko.

Denny Malone trägt eine goldene Polizeimarke, ist skrupellos, kaltblütig, gerissen

Malone schießt ihm trotzdem zweimal ins Herz. Das ist, man kann es nicht anders sagen, eine Exekution. Wie sie im blutgetränkten Mexiko vielleicht Alltag sein mag, nicht aber in einem Gemeinwesen unter der Herrschaft des Rechts, wo die blauen Uniformen noch Bedeutung haben, wo die Polizei sich als "Thin Blue Line" der Zivilisation versteht, als die Trennlinie zwischen Ordnung und Chaos.

Gilt das hier noch? Als der große Shoot-out vorüber ist, konzentrieren sich Malone und seine beiden Detective-Partner, der schwarze Hüne Big Monty Montague und der rothaarige Italiener Phil Russo, auf das nächstliegende Problem: Wie viel von der Heroinbeute können wir wegschaffen, ohne dass wir auffliegen? Zwanzig Kilo müssten drin sein, beschließen sie. Für die Altersversorgung.

Spätestens hier sind die letzten Zweifel ausgeräumt: Denny Malone, dem man jetzt atemlos folgen wird, dessen Sprache und Weltbild die Sätze dieses Buchs prägen, als würde man ihm permanent beim Denken zuschauen, trägt zwar die goldene Polizeimarke der "Manhattan North Special Taskforce", ist aber ein Verbrecher.

Skrupellos, kaltblütig, gerissen, durch und durch korrupt und perfekt vernetzt - ein König in seinem sehr speziellen Reich. Ein Mann zwar, der viele Jahre lang das Richtige tun wollte, der die Regeln zunächst nur gebeugt hat, um die übelsten Schurken in den Knast zu bringen, der aber irgendwann jedes Maß und jede Selbstrechtfertigung verloren hat.

Winslow sucht nach den Ursachen hinter den Schlagzeilen

Wie wird man so, scheint Don Winslow nun auf jeder Seite zu fragen - und das hebt "The Force" sehr bald über die Actionszenen und auch die üblichen Standards des Genres hinaus. In den Jahren der Recherche, als Winslow versucht hat, die Enthauptungen und die Leichenberge in Mexiko zu verstehen, ist er innerlich zum Systemtheoretiker gereift. Seitdem sucht er die Ursachen hinter den Schlagzeilen, die ungeschriebenen Regeln, die Geldflüsse und Geschäftsstrategien, die geheimen oder auch ganz offenen Widersprüche, die jedes Verbrechen in der Gesellschaft verankern, in der es begangen wird.

Und langsam spricht sich das herum. Inzwischen kommen Leute zu seinen Lesungen, um nach dem Schicksal ihrer Verwandten im Drogenkrieg zu fragen, und manchmal hat er tatsächlich eine Antwort für sie. Andere wollen wissen, warum der Drogenboss "El Chapo" an die USA ausgeliefert wurde, oder auch, warum so viele Leute jetzt wieder an Heroin sterben, selbst berühmte wie der Schauspieler Philip Seymour Hoffman.

Leseprobe

Dazu gibt Winslow in einer Klarheit Auskunft, wie sie von den eigentlichen Fachleuten nicht zu erwarten ist. Er schreibt weiterhin Fiktionen, aber vielleicht nur deshalb, weil er darin leichter und gefahrloser darstellen kann, was er für sich selbst als wahr erkannt hat.

Das rückt "The Force" mit seinen Korruptions- und Brutalitätsexzessen in ein anderes, ziemlich dramatisches Licht. Es ist auch der Polizeiroman nach den Todesschüssen und Krawallen von Ferguson, die als Referenz aufscheinen, nach Michael Brown, Trayvon Martin, Oscar Grant, nach "Black Lives Matter", das Buch zum Hass. Denny Malone und seine Partner gehen im Bewusstsein auf die Straßen, dass Teile der Bürgerschaft, die sie beschützen sollen, sie längst für eine mörderische und rassistische Bande halten.

Die Danksagung gilt vielen Polizisten, erwähnt aber ihre Namen nicht

Das Mörderische stimmt, das Rassistische hier weniger, aber was ändert das? Neben Malone kommen sicher drei Dutzend Cops namentlich in der Geschichte vor. Kein einziger von ihnen ist ein traditioneller, ehrlicher Polizist.

Fast logisch also, dass Winslow in seiner Danksagung zwar die vielen aktiven und pensionierten Cops hervorhebt, die ihm ihre Geheimnisse verraten haben, zugleich aber schreibt, eine namentliche Erwähnung würde ihnen nur schaden. Seine Widmung gilt wiederum allen Polizisten, die im Dienst ermordet wurden, während das Buch geschrieben wurde. Es sind fast zweihundert Namen. Irgendwo zwischen diesen Polen ist der Roman positioniert: zwischen dem Gefühl, dass das offizielle Bild längst nur noch Fassade ist - und der Erkenntnis, dass jene, die im Dienst ihr Leben riskieren, am wenigsten für das ganze Schlamassel können.

In Teilen ist dies ein ganz klassischer Polizeiroman, mit den Grillfesten, den Frauen, den Geliebten, der Kameraderie in der Umkleidekabine und der ungeschriebenen Schweigepflicht, was die Verfehlungen von Cop-Kollegen betrifft.

Auch die "Straße" ist wichtig, hier die Sozialwohnungsblocks von Harlem, wo sich zum Beispiel ein übel riechender, ewig auf Entzug zitternder Spitzel namens "Nasty Ass" herumtreibt, der wie eine Hommage an die Figuren aus der Polizeiserie "The Wire" wirkt.

Der Wahnsinn folgt hier einem System

Gelegentlich beschwört Winslow auch Stadtgeschichte, wenn etwa Malone an der ehemaligen "Lenox Lounge" vorbeikommt: "Billie Holiday sang hier, Miles Davis und John Coltrane bliesen sich hier die Seele aus dem Leib. Jetzt sind die Fenster mit Packpapier verklebt."

Am wichtigsten scheinen ihm aber jene Passagen zu sein, die das System hinter dem scheinbaren Wahnsinn erklären. Etwa Malones erste Begegnung mit Mary Hinman, einer kleinen, sommersprossigen Assistenz-Staatsanwältin, "kaum Einssechzig groß, ein wilder Ball aus Wut." Er solle im Zeugenstand einfach die Wahrheit sagen - und für die Verurteilung des Dealers sorgen, sagt sie ihm treuherzig. "Suchen Sie sich eins aus", antwortet Malone trocken. "Beides ist nicht zu haben."

Dann erklärt er ihr, was jeder Cop und jeder Staatsanwalt in den USA schnell genug lernt: Wer sich wirklich an die Regeln hält, mit Durchsuchungsbefehlen und Gerichtsbeschlüssen, wird kaum je einen wichtigen Dealer hinter Gitter bringen. Also lügen die Polizisten im Zeugenstand, schieben den Verhafteten fremde Waffen und fremde Drogen unter - und beruhigen sich damit, dass es ja nicht die Falschen trifft. Einmal geht so ein Plan gewaltig schief, der teuerste und arroganteste Starverteidiger kann Malone im Zeugenstand beweisen, dass eine angeblich konfiszierte Waffe aus dem Polizeiarchiv stammt. Der Richter ist stinksauer, der Fall muss schnellstens versiegelt und vertuscht werden.

Um solche Details geht es Winslow, sie atmen den Ruch des Realen - auch wenn sie eher Belästigungen sind angesichts der sonstigen Probleme, die Malone bald verfolgen. Irgendwann ist das FBI hinter ihm her, eine Staatsanwältin aus dem Team des Bürgermeisters erpresst ihn, die Heroin-Dominikaner haben Rache geschworen, die italienische Mafia will ihn tot sehen, weil er zu viel über die schmutzigen Deals der Immobilienentwicklung weiß, und die Cops einer rivalisierenden, genauso korrupten Einheit wollen ihn beim nächsten Einsatz erschießen.

So schafft der Roman, dass man innerlich doch an der Seite dieses pechschwarzen Schafs bleibt, bis New York in Flammen steht und alles zusammenbricht. Winslow hat hier nicht nur Lust auf einen krassen Antihelden - er hat auch Lust, die Verkommenheit bis ins Büro des Bürgermeisters zu verfolgen und bis in die teuersten Penthouses am Central Park. Am Ende hat er Lust auf die Apokalypse.

Wenn einer aber jahrelang mit New Yorker Polizisten spricht, um sich ganz auf ihr Denken, ihre Probleme, ihre Frustrationen einzulassen, und am Ende so wütend ist, dass er am liebsten die komplette Stadt in Schutt und Asche legen möchte - dann sollte dieses Werk der Fiktion vielleicht doch ein paar Menschen zu denken geben. Jenen zum Beispiel, die in Justiz und Politik der USA an den Schaltstellen sitzen.

Don Winslow: Corruption. Deutsch von Chris Hirte. Droemer Knaur, München 2017. 544 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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