Neuer Intendant für Berliner Volksbühne:Wagemutiger Coup

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Chris Dercon (l.), Leiter der Londoner Tate Gallery, und Frank Castorf (r.), Chef der Berliner Volksbühne. (Foto: Robert Haas, dpa)
  • Chris Dercon soll Nachfolger des Intendanten Frank Castorf an der Berliner Volksbühne werden.
  • Mit Dercon, derzeit noch Chef der Londoner Tate Gallery, übernimmt jemand ohne Bühnenerfahrung den Posten. Die Volksbühne würde ein Labor bleiben, das die Grenzen der Künste testet.
  • Aber das Risiko des Scheiterns wird größer. Ein Theater zu leiten ist bei aller Genre-Öffnung ein anderer Beruf, als Ausstellungen zu kuratieren.

Von Peter Laudenbach

Manchmal braucht es nicht viel, um die Berliner Gerüchteküche anzuheizen. Als die Volksbühne vor Kurzem ihren 100. Geburtstag feierte, hatte Berlins Kulturstaatssekretär, der frühere Musikindustrie-Manager Tim Renner, einen interessanten Begleiter mitgebracht: Chris Dercon, Direktor der Londoner Tate Gallery, davor bis 2011 Direktor am Münchner Haus der Kunst.

Nun melden verschiedene Quellen, auch exklusiv der SZ zugängliche, dass der Museumsmann Dercon Nachfolger des Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf werden soll. Auf Anfrage will Diedrich Wulfert, Sprecher der Berliner Kulturverwaltung, diese Berichte nicht kommentieren: "Wir sind in Verhandlungen." Ein Dementi klingt anders.

Abenteuerspielplatz der Künste

Die Entscheidung für Dercon wäre ein wagemutiger Coup, mit dem Renner seine neblige Formulierung, man müsse die Volksbühne "neu denken", einigermaßen radikal in die Tat umsetzen würde. Es ist kein Geheimnis, dass Castorf nichts dagegen gehabt hätte, wenn sein Intendantenvertrag noch einmal verlängert worden wäre. Und es wäre eine Möglichkeit gewesen, ihm an dem Haus, das er in den letzten 23 Jahren zu einem Abenteuerspielplatz der Künste und einem der aufregendsten Theater Europas gemacht hat, eine Nachspielzeit zu gönnen.

Mit 143 000 Zuschauern im vergangenen Jahr ist die Auslastung mehr als zufrieden stellend. Herbert Fritsch und René Pollesch, zwei der ausstrahlungsstärksten Künstler des Gegenwartstheaters, machen hier ihre interessantesten Arbeiten. Mit Experimenten, die sich so keine andere Bühne traut, demonstriert die Volksbühne, dass sie das angstfreie Theater für die etwas extremere Avantgarde ist - von Stücken ohne Schauspielern wie Ragnar Kjartanssons "Klang der Offenbarung des Göttlichen" bis zu Vegard Vinges Hardcore-Performances.

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Castorf hat als Regisseur nach einigen eher verquälten Jahren einen glänzenden Lauf, seine Inszenierungen werden regelmäßig zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Von einer Krise der Volksbühne kann keine Rede mehr sein.

Aber natürlich kann man nach zwei Jahrzehnten fragen, ob man diese Avantgardespiele in alle Ewigkeiten fortsetzen muss. Die Entscheidung für Dercon ist aus zwei Gründen nicht ungeschickt. Ein reiner Theatermann hätte gute Chancen gehabt, am übergroßen Mythos der Volksbühne zu zerschellen. Der aus der bildenden Kunst kommende Kurator Dercon steht, wenn es gut läuft, dafür, dass die Volksbühne ein Labor bleibt, das die Grenzen der Künste testet.

Die seit Langem an vielen Orten zu beobachtende Genre-Konvergenz und gegenseitige Öffnung zwischen Theater und bildender Kunst wurde an der Volksbühne zwar nicht erfunden, aber entschieden vorangetrieben. Christoph Schlingensief, der die Grenzen zwischen Film, Theater und bildender Kunst systematisch verwischt und die Genres gut gelaunt ineinander aufgelöst hat, begann hier seine Regie-Karriere. Castorfs eigene Regiearbeiten sind seit vielen Jahren große Medien-Installationen. Mit etwas Glück könnte der Neubeginn an der Volksbühne sich also die DNA des Castorf-Theaters zunutze machen und an die Suchbewegungen und Ästhetik der letzten Jahrzehnte anknüpfen.

Es gibt ein schönes, seltsames Film-Dokument, in dem man sieht, wie Dercon und Matthias Lilienthal, der eine Kunst-, der andere Theater-Profi, bei aller Sympathie ziemlich eitel aneinander vorbeireden. Etwa wenn Dercon nicht versteht, dass Lilienthal, einst Chef des Berliner HAU, demnächst Leiter der Münchner Kammerspiele, die Sponsoren-Fixierung des Londoner Museumsdirektors und sein Stolz auf den engen Kontakt zur Upperclass suspekt ist. Es wäre ganz schön, wenn Dercons Intendanz nicht eine große, teure Fortsetzung dieses Aneinandervorbeiredens wird.

Noch fehlt das Profil

Dass Dercon eine Neigung zum Theater hat, aber kaum Erfahrung, erhöht ohne Frage das Risiko des Scheiterns. Zwar hat er am Münchner Haus der Kunst mit Christoph Schlingensief gearbeitet und in seiner Jugend Theaterwissenschaften studiert. Aber ein Theater zu leiten ist bei aller Genre-Öffnung ein anderer Beruf, als Ausstellungen zu kuratieren.

Das Profil einer Bühne entsteht nicht durch eine Aneinanderreihung von Events. Und ein erkennbares Profil ist schon wegen der regen Berliner Konkurrenz notwendig. Im weiten Feld zwischen Performance, Tanz, Theater, bildender Kunst und Pop aller Art tummeln sich auch sehr vital das Theater Hebbel am Ufer, kurz HAU, das Festival "Foreign Affairs" der Berliner Festspiele, ab und zu auch die Schaubühne oder das Haus der Kulturen der Welt. Niemandem wäre geholfen, wenn eine weitere Bühne um die gleichen Künstler und ein überschaubares Publikum konkurriert - oder wenn der wuchtige Bau der Volksbühne zum Ort für Kunstbetriebs-Insider verkümmert.

© SZ vom 31.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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