Neuer Hausregisseur der Kammerspiele:Die U-Bahn als Proberaum

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München wird die erste Theaterheimat: Christopher Rüping. (Foto: Andreas Brueggmann)

Gerade lief Christopher Rüpings Inszenierung von "Das Fest" beim Berliner Theatertreffen. In München wird er unter dem neuen Intendanten Matthias Lilienthal nun Hausregisseur an den Kammerspielen.

Von Tobias Krone

Bevor es losgeht mit dem "Fest", wünschen die Schauspieler dem Publikum erst mal einen "Guten Abend". So gehört es sich für eine Inszenierung von Christopher Rüping. Der Gruß steht für das Prinzip einer radikalen Präsenz: Das Erzählte wird ganz und gar vor dem Publikum entwickelt - und ganz von den Darstellenden. Das birgt revolutionäre Sprengkraft. Rüpings Inszenierung "Das Fest", herausgekommen in Stuttgart, wurde dafür mit einer Einladung zum Berliner Theatertreffen bedacht - als eine der zehn "bemerkenswertesten" Inszenierungen des letzten Jahres. Mit 29 Jahren ist er der jüngste Regisseur in der diesjährigen Auswahl.

Berlin, Ende März 2015: Rüping steht im schwarzen Kapuzenpulli auf dem Kreuzberg und schaut auf die Dächer der Stadt. Lockige Haare, dunkle, noch leicht verschlafene Augen. Was er hier oben sucht, ist vor allem: Abstand. Vor zwei Tagen feierte Rüping mit "Romeo und Julia" am Deutschen Theater Premiere, morgen fährt er nach Stuttgart zur nächsten Produktion, "Peer Gynt". Der Sohn einer Hannoveraner Juristenfamilie ist als Nachwuchstalent gerade sehr gefragt. In seiner Berliner Wohnung, die er letzten August bezog, habe er bisher genau zehn Nächte verbracht, sagt Rüping.

"Das Fest": ein Dogma-Film, für das Theater umgearbeitet

2011 beendete er sein Studium an der Hamburger Theaterakademie, schon seine frühen Produktionen wurden zu Festivals eingeladen. Heute, mit nicht einmal 30 Jahren, kennt Rüping die Schauspielhäuser in Zürich und Frankfurt, pendelt regelmäßig zwischen dem Hamburger Thalia Theater, dem Schauspiel Stuttgart und dem Deutschen Theater Berlin hin und her. Und jetzt auch noch München: Unter dem neuen Intendanten Matthias Lilienthal wird Rüping in der kommenden Spielzeit an den Kammerspielen inszenieren. 2016/17 wird er dort Hausregisseur.

Abstand, geistige Distanz: Auch dem Erzähltheater - ein Schwerpunkt Rüpings - tut das gut. "Das Fest" von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov war einer der ersten Dogma-Filme, 1998, und wurde dann fürs Theater umgearbeitet. Es ist die Geschichte des jungen Christian, der zum 60. Geburtstag seines Vaters eine schonungslose Rede hält: Vor versammelter Festgesellschaft enthüllt er, dass der Jubilar ihn und seine Schwester als Kind jahrelang missbraucht hat - und entblößt damit die Verlogenheit einer aussterbenden Bourgeoisie. Rüping erzählt in seiner Inszenierung zwar die herkömmliche Geschichte. Aber es ist auch die Geschichte eines Ensembles, das sich die moralischen Rollen quasi in Echtzeit aneignet: Nahezu jeder auf der Bühne spielt einmal an diesem Abend den Vater - und jeder einmal den Christian.

Es geht also nicht um Moral, sondern darum, wie jeder Einzelne von uns damit umgeht. Rüping hat sein "Fest" zum Manifest gemacht. Gegen das Illusions- und Repräsentationstheater, gegen die Konzeptdiktatur der Regie - und für ein vollständiges Involvieren seiner Darsteller. Er selbst wird zum Teil des Kollektivs.

Ein roter Faden lässt sich, was die Ästhetik angeht, in Rüpings bisherigen Arbeiten nicht ausmachen. "Er ist kein Konzeptionalist", sagt der Stuttgarter Dramaturg Bernd Isele, und Rüping bestätigt das entschieden. "Völlig absurd" findet er die Idee eines intellektuellen Masterplans, wie er ihn bei Regie-Altmeistern wie Claus Peymann oder Frank Castorf feststellt: "Unsere Generation ist darauf angewiesen, auf Sachverhalte spezifisch und individuell zu reagieren." Das klingt etwas altklug nach Generation Retweet. Rüping befragt sein Publikum nach Handlungsspielräumen, ganz wörtlich verstanden. In seiner Frankfurter Inszenierung des "Dekalogs" ließ er die Zuschauer via Umfrage-Elektronik über den Fortgang der Geschichten entscheiden. Mit derselben Radikalität setzt er auch seine Schauspieler sich selbst aus.

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Die schauspielerische Entwicklung von Pascal Houdus steht beispielhaft für diese Methode. Houdus, Jahrgang 1986, war noch in der Ausbildung an der Schauspielschule Ernst Busch, als Rüping ihn für das Stück "Tschick" ans Hamburger Thalia Theater holte. Der junge Mann hatte zunächst Schwierigkeiten, sich auf das authentische Spiel mit dem Spiel einzulassen, das Rüping fordert: keinen Blickschleier gegenüber einer vierten Wand, kein theatrales Deklamieren. Der Regisseur ließ ihn die Texte in der U-Bahn sprechen - als Erprobung in und an der Realität: "Christopher sagte, stell dir die Büste von Ernst Busch vor und gib ihr Kopfnüsse", erzählt Houdus. Mittlerweile spielt er in fünf Rüping-Produktionen - mit kongenialer Erzähllust. Mit seinem athletischen Körper und einem jugendlich schönen Gesicht beherrscht Houdus das Kindlich-Naive ebenso wie wüste Brutalität. Houdus ist ähnlich flexibel, ähnlich uneitel wie Rüping - und passt damit perfekt in das Rüping-Kollektiv, das sich beim Schlussapplaus immer gemeinsam verneigt.

Immer wieder heben Menschen, die mit Rüping arbeiten, diese Qualität hervor, ein Kollektiv zu formen, immer wieder fällt das Wort "Angstfreiheit". Benjamin von Blomberg, demnächst Chefdramaturg bei Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen, entdeckte Rüping in Hamburg, als dieser noch Regie studierte. "Ich habe erlebt, wie Schauspieler bei ihm wirklich die Bremse loslassen", sagt Blomberg. Manche Darsteller habe er nie so gut erlebt wie unter Rüpings Regie. Rüping braucht seine Vertrauten um sich, in jeder Inszenierung. Der Bühnenbildner Jonathan Mertz zimmert ihm variable, modulare Räume, die der Improvisierfreude der Schauspieler dienen, die Kostümbildnerin Lene Schwind trägt mit formal-strenger Kleiderordnung dazu bei, dass die Zuschauer bei all der Rollen-Promiskuität auf der Bühne nicht den Überblick verlieren.

Selbst im Scheitern beweist Rüping Mut

Dass diese Methode kein Allzweckmittel für einen spannenden Abend ist, zeigt sein "Romeo und Julia" am Deutschen Theater Berlin. An den massiven Shakespeare-Sprachwülsten scheitert Rüpings naturalistischer Alltagssprech. Sein Versuch, den Handlungsalgorithmus (die diversen Einnahmen von Gift) wild zu zerlegen, macht das Stück öde und lang. Und er füllt dramaturgische Leerstellen mit ironiefreier Melodramatik: Popschnulzen und zähflüssiges Theaterblut in Twilight-Optik.

Aber auch in diesem Scheitern beweist Rüping jenen Mut, der bei anderen Inszenierungen so überzeugt: den Mut einer neuen Generation, die sich lässig der Stilmittel der Postdramatiker bedient. Den Mut, ein Ensemble von innen heraus funktionieren zu lassen, ganz ohne Regieallüren. Den Mut, aus dem Theater Leben werden zu lassen - und nicht andersherum. "Er benutzt die große Bühne, um mit den Menschen auf ihr zu spielen - und das mit der Verantwortungslosigkeit eines Dreißigjährigen, dem die Welt gehört", sagt Rüpings künftiger Chef Matthias Lilienthal.

Fragt man Rüping, ob er mit seinem Engagement in München ein Traumziel erreicht habe, antwortet er entschlossen selbstbewusst, entschlossen nüchtern: "An dem Projekt teilzunehmen, das Lilienthal vorhat, ist zwar ein Traum. Aber keiner, den ich geträumt habe, bevor ich um ihn wusste." In München will er zum ersten Mal "eine theatrale Heimat finden", er will das Ensemble mitprägen, "an der Schnittstelle zwischen freien Gruppen und Ensembletheater vermitteln". Es ist sehr wahrscheinlich, dass er diese Aufgaben meistern wird. Und das durchaus verantwortungsvoll.

© SZ vom 19.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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