Süddeutsche Zeitung

Neuer Chefdirigent:Alle Guten, alle Bösen

Euphorisch feiern Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker ihre neue Lebensgemeinschaft.

Von Wolfgang Schreiber

"Liebes Publikum! Zum ersten Mal darf ich an dieser Stelle das Wort an Sie richten."

Kirill Petrenko, vor vier Jahren von den Berliner Philharmonikern zum Chefdirigenten erwählt, begrüßt nach seiner Art geradeaus und einfach die Berliner Freunde der Musik, gedruckt in der Spielplanbroschüre des berühmten Orchesters. Sein Antrittskonzert am Wochenende glückte gleich in zweifacher Ausführung, in der Philharmonie am Freitag und open-air vor dem Brandenburger Tor am Samstag - es scheint auf zwei unterschiedliche musikalische Lebenshaltungen hinzuweisen.

Für die Berliner Philharmoniker bietet die Chefdirigentenwahl des 47-jährigen Russen Petrenko und seine jetzige "Inthronisation" Anlass dazu, im überfüllten Saal der Philharmonie und am Tag darauf vor rund 35 000 Zuhörern am Brandenburger Tor und den live zugeschalteten TV-Zuschauern ihre überlegene symphonische Kultur zu offenbaren, ihr starkes Denken, überragendes Können und Selbstgefühl - sozusagen in ihrer Funktion als Feldherr der Klassikkultur in der Hauptstadt.

Kirill Petrenko hingegen will sich hauptsächlich als ein der Musik, dem Orchester und allen Menschen freudig "dienender" Künstler verstanden wissen. Ohne Bedarf der Selbstdarstellung. Er dirigierte Beethovens legendäre Neunte Symphonie, die wahre "Schicksalssymphonie" der Menschheit, als eine Art elysisches Lehrstück ehrlich empfundenen, sogar grimmig fordernden Ansporns zur Mitmenschlichkeit, eben auch der Freude, die er mit seiner begnadeten Fähigkeit künstlerischer Hingabe tatsächlich einlösen kann.

Beethovens berühmte Neunte klingt hier weder staatstragend noch bloß pathetisch

Als Person aber, außerhalb musikalischer Zusammenhänge, will Kirill Petrenko niemals im Vordergrund stehen - seine öffentlichkeitsscheue Maxime. So wird er in Berlin zum Gegenbild des Kommunikators Sir Simon Rattle, seines philharmonischen Vorgängers. Petrenko weigert sich, über sein Metier und die "Geheimnisse" des Musikmachens öffentlich zu reden, mit Journalisten und Kritikern zu debattieren: Sein Fokus liege allein, erklärte er öfters dezidiert, auf der Musik und der Arbeit mit dem Orchester. Ein schlummerndes Problem für Petrenko und das ausgreifende Selbstgefühl der Berliner Philharmoniker, irgendwann, vielleicht?

Für Petrenkos fundamentale künstlerische Eigenwilligkeit sprach indes die Art und Weise, mit der er Beethovens Neunte gleichsam in den Griff nahm, mit entschiedener Hand, durchaus mithilfe seiner kritischen Erkenntnis, dass diese Symphonie all das enthalte, "was uns Menschen auszeichnet, im Positiven wie im Negativen".

Also ließ er das Stück mit dem Jubelfinale der idealistischen "Ode an die Freude" Friedrich Schillers ohne jedes Interesse am Repräsentativen, klischeehaft Staatstragenden oder auch bloß pathetisch Erhabenen und Schönen musizieren, womit gerade die Neunte Symphonie oft belastet erscheint und auch in den politischen Dienst genommen wird. Kirill Petrenko rückte sie weit weg sowohl vom spätromantischen Espressivo Wilhelm Furtwänglers als auch von der betörenden Klangmagie Herbert von Karajans, seiner beiden Berliner Vorgänger.

Beethovens letzte Symphonie, uraufgeführt im Jahr 1824, erschien vielmehr in der Nähe drakonischer Sachlichkeit, ja schneidender Dringlichkeit, mit extremen, zumal für die Holzbläser zuweilen gefährlich raschen Tempi und geradezu explosiv geballten Klangmischungen sowohl im nur gezügelt geäußerten "un poco maestoso" des Kopfsatzes als auch im minutiös strukturierten Presto-Scherzo. Petrenko gelingt es, seine Energie in tänzerischen Körpergesten zu entladen, er kann Musik poetisch fließen und schweben lassen.

Das Chorfinale dann mit allem Klangnachdruck, Drive in den Tempi, reich gestaffelter Motiventfaltung, doch zart entrücktem Piano beim Freudenthema der Bässe und Celli - so entstand die weltumspannende Hymne jener "Freude" schlüssig und entschieden, die Leonard Bernstein an selber Stelle in Berlin, an Weihnachten 1989 kurz nach dem Mauerfall, so aktuell wie kühn in den Gesang "Freiheit schöner Götterfunke" umgedeutet hatte. Der stark motivierte Rundfunkchor Berlin (Gijs Leenaars) sowie vier exzellente Solisten (Marlis Petersen, Elisabeth Kulman, Benjamin Bruns, Kwangchul Youn) gelang die inspirierteste Klangschönheit.

Petrenko bleibt sich und der Musik treu - und ein Jahr lang noch der Bayerischen Staatoper in München

Petrenkos Antrittskonzert rief in der Philharmonie kultivierte Neugier plus Verzückung, vor dem Brandenburger Tor aber tiefe Emotionen und spontanen Jubel hervor. Nur im Saal, nicht im Freien, dirigierte er vor der Neunten noch ein Orchesterwerk des 20. Jahrhunderts, mit dem er sein Statement abgab für die Moderne wie fürs Musiktheater: Die Symphonischen Stücke aus der Oper "Lulu" von Alban Berg, komponiert 1934, sind Petrenko von seiner Münchner "Lulu"-Aufführung 2015 vertraut.

So triftig im Orchestersatz ausgearbeitet, so hellhörig in der tragischen Dimension der Protagonistin empfunden, ist diese wunderliche Orchestersuite gewiss nicht oft zu hören. Frank Wedekinds Lied der Lulu ("Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben, so setzt das meinen Wert nicht herab ..."), sang Marlis Petersen in bestürzend intensiver Stimmführung. Petrenko hat sich die Künstlerin für seine erste Berliner Saison als "artist in residence" gewünscht.

Noch für eine Spielzeit bleibt Petrenko Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. Er hat sich Zeit gelassen mit dem Amtsantritt in Berlin, wo er sich noch etwas rar macht - und München noch treu bleibt. Treue zu sich selbst und zur Musik, das ist seine Eigenwilligkeit.

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Quelle:
SZ vom 26.08.2019
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