Volle Kraft - Ernst Blochs "Geist der Utopie" in der Urfassung
Es ist genug - das ist immer noch einer der aufregendsten Anfangssätze für ein Buch. "Es ist genug. Nun haben wir zu beginnen."
Begonnen wurde der "Geist der Utopie" Mitte der Zehnerjahre des vorigen Jahrhunderts, es ist ein Produkt des Ersten Weltkriegs. Ernst Bloch hatte nach seiner Promotion die großen deutschen Gesellschaftstheoretiker getroffen, Georg Simmel, Georg Lukács, Max Weber. Aber die deutsche Universität war ihm zu eng, er musste expressiv denken, expressionistisch, auch deutsch und dialektisch, aber mehr Hegel als Marx. 1917 zog er mit seiner Frau nach Ascona, dort entstand das Buch, eine revolutionäre Mischung von Eschatologie und Monte Verità. Hundert Jahre nach der Ersterscheinung kommt der "Geist der Utopie" in seiner ursprünglichen Fassung wieder heraus, die von Bloch für spätere Ausgaben umgearbeitet wurde.
Das Buch ist noch heute erregend und provokativ, nicht was seinen Inhalt angeht, sondern wie es diesen zur Darstellung bringt. Seine Sperrigkeit hat ihm die Kraft seiner Vision bewahrt. "Und dazu hilft, wie wir sagten, aufs Kräftigste schnitzwerkhaft zu denken. Denn das griechische Leben ist flach und das ägyptische, der begriffene Stein, ist tot. Aber das innere Leben glüht und stampft. Es treibt hinüber und macht seine Gestalten verschlungen, winklig, voreinander, übereinander gestellt und aufgetürmt. Es ist dieselbe Kraft, die sich in der Lava, dem Bleisturz im kalten Wasser, der Holzmaserung und zuhöchst in der zuckenden, blutenden, fetzenartigen oder sonderbar geballten Gestaltung der inneren Organe ausgewirkt hat."
Es gibt schon den ganzen Bloch in diesem Buch, den der "Spuren" oder des monumentalen "Prinzips Hoffnung", die furiosen Beethoven- und Wagnerextrapolationen, die konturenreichen historischen Momente, die Zusammenhänge von Utopie und Prophetie. Und es gibt so etwas wie Bloch privat, Passagen zum Zusammengehen von Mann und Frau - das Buch ist Blochs Frau Else von Stritzky gewidmet -, wo das Sexuelle und das Spirituelle eins sind. Fritz Göttler
Versuch der Selbstbestimmung
In seiner Heimat gehört Cesare Pavese als italienischer Albert Camus zum Kanon, wir können ihn jetzt in einer gelungenen Neuübersetzung wiederentdecken. Er erzählt die Geschichte eines Heimkehrers, der in Amerika Erfolg hatte, nachdem er als Findelkind die Welt von ganz unten kennenlernen musste. Pavese siedelt das im Dorf seiner eigenen Geburt zwischen Turin und dem Meer an: Die Berge, das scharf eingeschnittene Tal, die Leute so rau wie die Natur, und alles noch immer unter dem Eindruck der gewalttätigen Dynamik des Faschismus. Wie er sich damals als Kind halten konnte, an was ihn dieses Haus und jener Zaun erinnern, was sein einziger verbliebener Freund von den Menschen und dem Fememord an einer Frau aus dem Dorf berichtet - es entsteht ein Bild der italienischen Nachkriegsgesellschaft, in der jeder seine eigene Vergangenheit zu verarbeiten hat, weitab von den heiteren Touristenresorts und den enormen Schätzen der Kunstgeschichte. Vor allem fasziniert der Erzähler, der - damals, heute - seinen Platz zu bestimmen versucht und bloß verstehen will, was die Welt von früher so durcheinandergewirbelt hat. Rudolf von Bitter
Beängstigende Freundlichkeiten
Napoleon ist geschlagen - was wird aus Travnik? Ivo Andrić könnte gut eine seiner Romanfiguren sein. Ein serbischer Gesandter, ein russischer Diplomat, ein französischer Unterhändler. Er wäre so gerne ein Vermittler zwischen Ost und West, hat er in seiner Nobelpreis-Dankesrede gesagt, und in seiner einnehmenden Art zu erzählen, ist Andrić dieser Vermittler. Er stammt noch aus dem k.u.k.-Bosnien des vorletzten Jahrhunderts, dem kleinen Travnik mit seinen stolzen Bewohnern. Dort, wo man wusste, dass es wichtiger war, den provinziellen Stolz zu behalten und daraus weltbürgerliche Großzügigkeit zu entwickeln, als umgekehrt. Wo Völker, Armeen, Religionen sich in ein kleines Tal zwängen, als seien sie eine Familie, aber wo jeder doch nur Luft hat, wenn er den Abstand zum Nachbarn einhält. Der Stolz erleichtert das. Aber was passiert, wenn fremde Truppen eindringen, wenn sich Diplomaten auf einmal fürchten vor den "orientalischen Freundlichkeiten, von denen man eine Gänsehaut bekam"? Und dann will der Wesir auch noch ein Heer gegen Serbien aufstellen. Wohin soll das alles führen? Heute wissen wir es. Andrić erzählt, wie es dazu kommen musste. Helmut Mauró
Rumänien frei nach Gefühl
Manchmal schmeckt es besser, wenn man ohne Rezept kocht und alles nach Gefühl in den Topf schmeißt. Genauso verhält es sich bei Michaela Nowotnick und Florian Kührer-Wielach mit Geschichten über Rumänien. Was tun, wenn es so viel zu erzählen gibt über dieses kleine große, teilweise noch gänzlich unbekannte Land? Ganz einfach, so die beiden Herausgeber: Man nehme zwanzig Autoren, die alle ein größeres oder kleineres Faible für Rumänien haben, und lasse sie schreiben, was und wie sie wollen: Reisetagebuch, Gedichte, Autobiografisches, Romanauszüge. Das thematische und stilistische Potpourri demonstriert einmal mindestens, dass es noch nie eine schlechte Idee war, Vielfalt zuzulassen. Und dass sich das literarische Rumänien so schnell nicht in feste Kategorien quetschen lässt. Weshalb müsse man denn immer dieses oder jenes sein, fragt Max der Stadtnarr in einer der Geschichten. Der Festlegung entziehen sich auch die Autoren - auch wenn nach Jahren ihre verschwommenen Erinnerungen an rumänische Orte und Nachbarn während des Aufschreibens ihre Haltlosigkeit verlieren. Kim Maurus
Gekaufte Biografien
Angola, der Kolonialkrieg, sind die großen Themen von António Lobo Antunes. Es sind drastische Romane, die der Portugiese schreibt. Auch die Bücher des hierzulande viel weniger bekannten José Eduardo Agualusa - 1960 in Huambo geboren und heute in Portugal, Brasilien und Angola lebend - haben den jahrzehntelangen Befreiungskampf zum Hintergrund, allerdings weniger offensichtlich. Erst allmählich kapert die dunkle Vergangenheit sein vielschichtiges Buch "Das Lachen des Geckos", mutiert die traumverlorene, hochpoetische Geschichte in der Tradition des magischen Realismus (der Erzähler ist ein Tiger-Gecko) zu einem Abrechnungs-Thriller par excellence. Der Antiquar Félix Ventura verschafft der führenden Elite Angolas eine "gute Vergangenheit, edle Vorfahren, Pergamente. Kurzum: einen Namen, der nach Klasse klingt und Kultur." Angesichts der Geschichte des Landes ein zweifelhaftes Geschäft, das Félix rechtfertigt, indem er sagt, er stelle "Träume, keine Fälschungen" her. Ein Buch von 2004 über Fakt und Fiktion, in dem Borges und Pessoa munter durch die Seiten geistern, das man in Zeiten von Fake News aber ganz neu liest. Florian Welle
Vorkämpferin für Frauenrechte
"Frau, erwache! Der mahnende Ruf der Vernunft erschallt im ganzen Universum. Erkenne deine Rechte!" Diesen flammenden Appell schrieb Olympe de Gouges 1791 ans Ende ihrer "Erklärung der Frauen- und Bürgerinnenrechte". Mit diesem Manifest wollte sie nichts Geringeres erreichen, als den Lauf der Französischen Revolution zu ändern. Denn auch wenn eine neue Verfassung die Gleichheit aller Menschen beschwor, waren damit doch vor allem die Männer gemeint.
Olympe de Gouges (1748 - 93), die sich selbst aus schwierigen Verhältnissen herausgearbeitet hatte, wollte das Los aller Unterdrückten verbessern, ob Sklaven, ob Frauen. Aus ihren Schriften liest man auch heute eine ansteckende Wut heraus. Dass sie nun in eingängiger Neuübersetzung erscheinen, ist verdienstvoll, denn noch immer ist diese Vorkämpferin des Feminismus nicht so bekannt, wie es ihr gebühren würde. Das liegt natürlich auch daran, dass eine unbequeme Frau wie sie schnell kaltgestellt wurde: Die Jakobiner um Robespierre ließen die allzu laute Aufklärerin guillotinieren. Es war eine klare Antwort auf Olympe de Gouges' Frage: "Mann, bist du fähig, gerecht zu sein?" Antje Weber