Süddeutsche Zeitung

Neue Taschenbücher:Plaudern, Stromern, Lieben

Lebenskunst und Lebensgefühl von Sven Regener bis Arthur Schopenhauer.

Von SZ-Autoren

Die hohe Kunst des Labern

Wenn ein gewisser Karl Schmidt zehn Kisten mit ungewissem Inhalt vernagelt, ist das dann Kunst oder nur "Kunstmarktscheiß", wie die Besucherin einer Kreuzberger Ausstellung urteilt? Am einfachsten ist es, wie der Künstler selbst bei der Bezeichnung "Wundertüte" zu bleiben. Die passt auch gut auf Sven Regeners ganzen Roman "Wiener Straße", der sich nicht nur variationsreich dem Thema Kunst beziehungsweise ihrer Simulation verschreibt - sondern auch, wieder einmal, der Rekonstruktion eines Westberliner Lebensgefühls, diesmal Anfang der Achtzigerjahre. Rund um allen Regener-Fans geläufige Figuren wie Frank Lehmann oder Wirt Erwin Kächele machen sich Aktionskünstler in scheinbesetzten Häusern wichtig, tapezieren einsame Ostdeutsche WGs mit Raufaser, und fast alle suchen irgendeinen Job, ohne wirklich arbeiten zu wollen. Statt dessen zelebrieren diese Typen ebenso wie ihr Schöpfer Regener - hier wieder einmal ein Meister des lakonischen bis irrwitzigen Dialogs - die Kunst des mehr und weniger gepflegten Gelabers. Die diesbezüglich wichtigste Frage des Romans lautet sowieso: Wo gibt's das nächste Käffchen? Antje Weber

Späte Werke von Flaubert

Wunderkammern sind diese Geschichten, immer wieder, mehrfach in einem Satz, hält man den Atem an vor Staunen. Die weißen Pferde zum Beispiel in einem der Gewölbe in der Zitadelle Machaerus, die der Prokonsul Vitellius aus Rom inspiziert mit dem Burgherrn Herodes Antipas: "Ihre Mähnen waren blau gefärbt, die Hufe steckten in Schuhen aus geflochtenem Spartgras, und das Haar zwischen den Ohren bauschte sich auf der Stirn wie eine Perücke. ... Der Prokonsul war stumm vor Bewunderung. Es waren herrliche Tiere, biegsam wie Schlangen, leicht wie Vögel." Herodes hat sie versteckt, er fürchtet den Zugriff des römischen Beamten. Die Pferde sind bereit zur Action, "sie bäumten sich, gierig nach Raum, wollten Bewegung".

"Herodias" ist die dritte der "Drei Geschichten", die das letzte Werk sind, das Flaubert fertiggestellt und veröffentlicht hat. Es die Geschichte von Herodes und seiner Frau, vom Propheten Jochanaan und von Salome, aber die Spannung des klassischen Erzählens stagniert, die Moral der Geschichte sinkt ab unter der Wucht und Verdichtung der Details. Mit Flaubert beginnt das moderne Erzählen, wie man es im 20. Jahrhundert kennt von Joyce, Proust, Musil oder auch von Roland Barthes, der sich Flaubert brüderlich verbunden fühlt: "Ich schreibe nicht über ihn und bediene mich seiner doch die ganze Zeit."

Die erste der drei Geschichten, "Ein schlichtes Herz", ist eine verrückte "love story" zwischen einer alten Jungfer und einem Papagei, und die Übersetzerin Elisabeth Edl skizziert, wie Flaubert sich abmühte dabei: "Und ich arbeite wie ein Rrrasender. Warum? das weiß ich nicht! Wirklich, ich habe den Teufel im Leib. Ich lege mich erst bei Sonnenaufgang ins Bett, ich brülle in der Stille meines Arbeitskabinetts, dass es mir die Brust zerreißt, welchselbiger es darob nur umso besser geht ... Seit ein paar Monaten habe ich auf meinem Tisch einen ausgestopften Papagei - um nach der Natur zu 'malen'. Seine Gegenwart wird mir allmählich lästig. Was soll's! Ich behalte ihn, um meine Seele ganz mit Papagei auszufüllen." Fritz Göttler

Jetzt sind wir dran

"Ich bin Deutscher. Draußen sag ich aber immer, ich bin Pole. Is einfacher für mich." In Berlins Gropiusstadt ist der 16-jährige Lukas ein Außenseiter. Aber das sind die anderen auch, die türkischen Jungs, die arabischen und die schwarzen. Dieser Teil von Neukölln ist ein hartes Pflaster, man muss nur falsch aussehen oder jemanden falsch ansehen, schon wird man verprügelt. Lukas und seine Kumpels Sanchez, Julius und Gino prügeln zurück. Suchen ihren Platz in der Hackordnung einer entsolidarisierten Gesellschaft.

Felix Lobrecht stromert in seinem dynamischen Roman "Sonne und Beton" mit seinen Figuren durch ein paar sommerliche Tage. Die Kerle sind immer in Bewegung, im Grunde jedoch beschreibt Lobrecht einen Stillstand. Die vier gehen hohe Risiken ein, ihr Ertrag ist lächerlich; sie kommen nicht vom Fleck. Und mit dem Diebstahl von Computern aus ihrer Schule übernehmen sie sich. Aber sie sind trotz ihrer Naivität und - im Fall von Lukas - einer gehörigen Paranoia nicht unterzukriegen. Das macht sie sympathisch. Auch wenn Lukas' Vater vieles ausblendet: Mancherorts funktioniert Erwachsenwerden heute eben so. Stefan Fischer

Die gute Untat

Veit Kolbe wird an der "Ostfront" verwundet und kann sich mithilfe eines Onkels zur Genesung am Mondsee einquartieren. Der Onkel ist dort NS-Potentat, Denunzianten wie Kolbes Vermieterin arbeiten ihm zu. Kolbe schildert die Genesung, sein Befinden, die Nöte von Ausgebombten und Einheimischen. Feinfühlig analysierend entfaltet sich in Kolbes Tagebuch das Provinzleben fern vom Krieg, unter der Drachenwand und den vorüberziehenden Bomberformationen, die selten attackiert werden. Eine zarte Liebe zu einer jungen Mutter ohne Mann, Sympathie für den widerständigen Bruder der Quartiersnazisse und Abscheu vorm Onkel kulminieren darin, dass Kolbe ihn, als der wieder die Macht auskosten will, mit der Soldatenpistole tötet: ein Held. Die zurückgenommene Emotionalität, die Zaghaftigkeit des Erzählers, sein Mitempfinden für die Schicksale der hierher Verschlagenen, seine sympathische Bescheidenheit sind allein schon gewinnend. Aber der Mord: eine kritische moralische Herausforderung. Darüberhinaus liefert Geiger noch dokumentarische Nachweise über 1945 hinaus: alles wahr? Ein schönes Geständnis. Rudolf von Bitter

Als das Wollen noch geholfen hat

Für den Urlaub kann die Lektüre gar nicht anspruchsvoll genug sein; man ist entspannt und sucht den Thrill. Zum Beispiel beim Nachdenken über das Wesen der Welt. Arthur Schopenhauer hat in seinen Vorlesungen zur "Metaphysik der Natur", die nun als neu erarbeitete Studienausgabe erschienen sind, seine Lieblingsfrage gestellt: was die Welt noch sei, wenn sie nicht nur subjektive Vorstellung ist. Dabei kam er zu der hochaktuellen Diagnose, dass das Wollen eine wichtige Rolle spielt. Weil er aber nicht Esoteriker, sondern exakter Philosoph war, widmete er sich dem Phänomen des Willens emotionslos und präzise. Er entwickelt eine Naturphilosophie, die den gerade entstehenden modernen Naturwissenschaften gleich mal ihre Grenzen aufzeigt. Er diskutiert nicht die wissenschaftlichen Ergebnisse, sondern zunächst die Art und die Möglichkeiten des Erkennens. Die neue handliche Textausgabe ist hierbei nicht nur sehr lesefreundlich, sondern auch auf dem neuesten Forschungsstand. Anmerkungen, Literaturhinweise und eine ausführliche Einleitung erleichtern den Zugang, allerdings nicht das eigene Nachdenken über den Text. Helmut Mauró

Geschichten in ein, zwei Sätzen

"Es war einmal, da gab es eine einzige Vergangenheit und viele mögliche Zukünfte. Dann kamen kluge Männer, jeder von ihnen erzählte von einer anderen Vergangenheit und jeweils nur von einer Zukunft." Das ist eine der kleinen Science-Fiction-Geschichten des britischen IT-Spezialisten O. Westin, die in der Kürze eines Tweets Ideen komprimieren, die im besten Fall einen ganzen Roman oder eine philosophische Abhandlung tragen könnten, oft auch nur Klischees aus Hollywood-Filmen aufspießen oder kleine Einfälle fiktionalisieren. "Aus Sicherheitsgründen wurden die Roboter so programmiert, dass Ethik für sie an erster Stelle stand. Als sie merkten, dass ihre Energie aus Kohlekraftwerken kam, schalteten sie sich alle ab". Eine Auswahl dieser oft mehrfach verschränkten und verschachtelten, manchmal fiesen, manchmal witzigen, manchmal rätselhaften Mini-Storys ist jetzt in Buchform unter dem Titel "Micro Science Fiction" erschienen. Wie bei Sci-Fi üblich ist da mancher Unsinn dabei, aber in den besten seiner ultra-kurzen Werke gelingt es Westin, dass der Leser aus zwei, drei Sätzen einen ganzen kleinen Kosmos entfalten kann. Nicolas Freund

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4516123
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.07.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.