Neue Taschenbücher:Literarischer Tango

Antònio Lobo Antunes' "Der Tod des Carlos Gardel", Scheinautobiografisches von Roland Barthes, Pornografisches von Charles Bukowski und vielleicht sogar ein paar zu viele Gründe, klassische Musik zu lieben.

Von SZ Autoren

Neue Taschenbücher: António Lobo Antunes: Der Tod des Carlos Gardel. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. btb, München 2019. 416 Seiten, 12 Euro.

António Lobo Antunes: Der Tod des Carlos Gardel. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. btb, München 2019. 416 Seiten, 12 Euro.

Der Geist des Tango

Der Tango erzählt von Trauer, Sehnsucht und Selbstmitleid. Niemals larmoyant, immer mit sentimentaler Würde. In seinem rhythmischen Wiegen ist er auch ein Abwägen, eine bedachte Selbstbeobachtung. Im 1994 erstmals erschienenen Roman "Der Tod des Carlos Gardel" übersetzt António Lobo Antunes diese musikalische Form fließend in ein Familiendrama. Am Totenbett des Jungen Nuno reflektieren die Verwandten über die Umstände, die ihn in die Drogensucht trieben und zur Überdosis Heroin führten - und wer eine Mitschuld daran trägt. "Der Tod des Carlos Gardel" ist ein Lamento derer, die zurückbleiben und sich zu spät eingestehen, dass sie ihr eigenes Unglück zu lange unterdrückt und daher weitergegeben haben. Die fünf Kapitel, alle nach Tango-Liedern benannt, geben jedem Familienmitglied eine Stimme, um die eigenen Unzulänglichkeiten und die persönliche Perspektive auf das Unglück zu reflektieren. Nur wenige Satzzeichen unterbrechen die direkte Rede, die Antunes in verschlungenen Takten zu einem vielstimmigen Nachdenken miteinander verwebt, gegeneinander abwägt und aufeinanderprallen und damit Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen lässt. Dieser verschachtelte Gedankenstrom setzt aus der von jedem alleine ertragenen Familiengeschichte ein gemeinsames Schicksal zusammen. Über all diesen persönlichen Lamentos schwebt der Geist des argentinischen Tango-Sängers Carlos Gardel, der dem Vater wichtiger als die eigene Familie war und dessen Lieder in den Erinnerungen aller nachklingen. Selbst der ins Koma abgedriftete Nuno erinnert sich an einander überlagernde Bilder und Wunschvorstellungen, die sein Leben bestimmten: "Mein Vater, als würde er singen, als hätte er das Haar von Carlos Gardel in seinem Haar, den Blick von Carlos Gardel in seinem Blick, das Lächeln von Carlos Gardel in seinem Lächeln und ich war nicht im Krankenhaus, ich war in der Wohnung wir lebten alle drei in derselben Wohnung und ich hatte damals die Gewissheit, dass es immer so sein würde, meine Mutter, mein Vater und ich." Sofia Glasl

Antibiografisch, autobiografisch

Neue Taschenbücher: Roland Barthes: Über mich selbst. Aus dem Französischen von Jürgen Hoch. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 272 Seiten, 12 Euro

Roland Barthes: Über mich selbst. Aus dem Französischen von Jürgen Hoch. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 272 Seiten, 12 Euro

Bereits der Titel des 1975 erschienenen Werkes führt den unbedarften Leser an der Nase herum: Eine Echtheit vorheuchelnde Autobiografie von eben jenem Autor, der einst mit seinem Aufsatz "Der Tod des Autors" gegen die genialische Überhöhung des Subjekts anschrieb? Roland Barthes ist davon natürlich weit entfernt, nicht nur weil er vorwiegend in der dritten Person Singular schreibt. Sein einleitender, programmatischer Satz stünde noch heute, inmitten der Renaissance der Biografiebesoffenheit, so manchem Authentizitätsschinken gut zu Gesicht: "All dies muss als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird." Barthes zersplittert sich selbst als vielfältig existierendes und erkennendes Subjekt und ist so aktueller denn je. Er umkreist biografische Schnipsel, Begriffe und Einflüsse, er kommentiert sein eigenes Schaffen. Wie in anderen Hauptwerken geschieht dies in kurzen Fragmenten, die mit der Linearität der Erzählung brechen. Die multiperspektivische Kombination der Einzelteile wird zur Aufgabe des wachen Lesers, der so den Inspirationsfuror von "R.B." fortschreiben und Pfade eines mannigfaltigen Werkes freilegen kann. Volker Bernhard

Alt und schmutzig: Das Original

Neue Taschenbücher: Charles Bukowski: Keinem schlägt die Stunde. Stories. Aus dem Englischen von Malte Krutzsch. S.Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019. 364 Seiten, 13 Euro.

Charles Bukowski: Keinem schlägt die Stunde. Stories. Aus dem Englischen von Malte Krutzsch. S.Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019. 364 Seiten, 13 Euro.

Wer sich als "dirty old man" feiern lässt und damit sogar Kultstatus erlangt, muss sich nicht wundern, wenn man ihn beim Wort nimmt und dies auch auf ihn anwendet. Charles Bukowski war revolutionär, als er in den Sechziger- und Siebzigerjahren seine Geschichten und auch bemerkenswerte Gedichte schrieb. Die Storys atmen Sarkasmus und Selbstverachtung, Häme und Niedertracht mit Suff und Sex im Zentrum, alles schnörkellos und direkt: weniger Psychologie, dafür mehr Pornografie, wenig Gewalt und mächtig Dosenbier. Hier brachte ihn zuerst der Augsburger Maro-Verlag heraus, der auch Jörg Fauser entdeckt hat. Die Geschichten spielen in Los Angeles ("Mein Paris, und wenn ich nicht wie Villon aus der Stadt gejagt werde, sterbe ich da auch"), die Frauen sind blau und willig, der Autor kümmert sich um seine Einnahmen, seine Eingebungen liegen auf der Straße, wenn sie da nicht noch stehen. Niemand muss sich diesem Phänomen der Literaturgeschichte des politischen Westens nähern, aber es ist zu loben, den Autor in Erinnerung zu rufen, an dessen Rezepte sich viele Jüngere einfach anlehnen, um ihrerseits direkt zu sein. Er aber ist das Original. Rudolf von Bitter

Warum wir die Klassik lieben sollen

Neue Taschenbücher: Jens Berger: 111 Gründe, klassische Musik zu lieben. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2019. 228 Seiten, 12,99 Euro.

Jens Berger: 111 Gründe, klassische Musik zu lieben. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2019. 228 Seiten, 12,99 Euro.

Vielleicht hätten ja elf "Gründe" ausgereicht, die weite tiefe Welt der schönen Töne und Klänge durch ein Buch "lieben" zu lernen. Nun, der Autor hat "sein Herz an die klassische Musik verloren", so der Verlag, und ließ sich deshalb noch einhundert Argumente mehr dazu einfallen, die wie eine sanft hämmernde Litanei zu genießen sind. Jens Bergers Liebesbegründungen können derart gehäuft den Leser durchaus anstrengen, jedoch die musikalische Sache selbst anregend, belehrend, manchmal belustigend machen. Er kennt den Stoff, aus dem die Sonaten und Symphonien, die Lieder, Opern und Messen geformt sind, und er liebt heiß seine 111 "Weil"-Titel: "Weil manche Stücke einfach der Wahnsinn sind" oder auch "Weil man zum Rausch keinen Alkohol braucht", dann "Weil Geduld belohnt wird" . . . Von Callas und Karajan, von Bach und Beethoven, von Schönberg, Cage, von vielen anderen ist eloquent die Rede. "Weil so viel drinsteckt" - zum Beispiel in den komplizierten Wegen "der verschiedensten kompositorischen Möglichkeiten, Melodien in einem Stück durch den Fleischwolf zu drehen". Locker lässt sich über klassische Mu sik reden. Wolfgang Schreiber

Der Stern der Jugend

Neue Taschenbücher: Agustín Martínez:  Das Dorf der toten Herzen. Thriller. Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2019. 399 Seiten, 14,90 Euro

Agustín Martínez: Das Dorf der toten Herzen. Thriller. Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2019. 399 Seiten, 14,90 Euro

Glühende Hitze, Staub, der auf den Boden des Landhauses dringt. Ein paar Verwandte im Dorf am Rande der Wüste. Entwurzelung, keine Perspektive für die Zukunft. Ein langer Riss auf der Wohnzimmerdecke. Die Küchentür lässt sich nicht schließen. Durch diese Tür kommen die Killer, töten Irene. Jacobo überlebt, Lungendurchschuss. Sie mussten, beide in den Vierzigern, nach Portocarrero ziehen, als Jacobo seinen Job verlor. Ihre Tochter Miriam war am Abend des Überfalls nicht zu Hause. Sie leidet an dem neuen Leben, hasst die Eltern. Es gibt Chats auf ihrem Handy, da spielt sie die Möglichkeit durch, Killer anzuheuern, um sie zu töten. Der Thriller von Agustín Martínez bringt die Zeit vor der Tat mit der danach zusammen. Die Anwältin Nora glaubt an Miriams Unschuld, verteidigt sie, cui bono. Sie weiß wie das ist, aufzuwachsen wie Unkraut, wie mala hierba. "Die Zeit hat für Teenager eine andere Dimension. Die Tage können sich endlos lang hinziehen, die Zukunft liegt irgendwo in weiter Ferne, wie ein Stern, der nur schwach leuchtet und manchmal ganz erlischt. Los, vorwärts, irgendwann erreichst du ihn. Aber was, wenn dieser Stern nie existiert hat?" Fritz Göttler

Zwischen Welten und Werten

Neue Taschenbücher: Kim Thúy: Die vielen Namen der Liebe. Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große. dtv, München 2019. 137 Seiten, 10,90 Euro.

Kim Thúy: Die vielen Namen der Liebe. Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große. dtv, München 2019. 137 Seiten, 10,90 Euro.

Übersetzt heißt ihr Vorname "winzige Kostbarkeit". Die Vietnamesin Bao Vi wird diesem Namen jedoch nicht gerecht: Sie wächst zu überdurchschnittlicher Größe heran. Auch sonst enttäuscht sie die Erwartungen ihrer Mutter und Brüder, mit denen sie in den Siebzigerjahren als Boat People geflüchtet und in Kanada gelandet war. Sie nimmt den westlichen Lebensstil an, lebt ohne Trauschein ihre Liebe zu einem Mann aus der vietnamesischen Exilgemeinde aus und wird schließlich auch ihm zu selbständig. Die kanadische Schriftstellerin Kim Thúy, 1968 in Saigon geboren, lässt sich in ihrem dritten Roman "Die vielen Namen der Liebe" einmal mehr von ihrer Lebensgeschichte inspirieren. Sie hat einen eigenen Ton dafür gefunden, vom Fortgehen und Ankommen zu erzählen, springt in kurzen Abschnitten von einem Ereignis zum nächsten, in einer klaren und doch poetisch aufgeladenen Sprache. Die Leerstellen zwischen den teils schmerzvollen Erinnerungen können - ähnlich wie bei Marguerite Duras - die Leser nicht alle selbst füllen. Doch sie spüren die Zweifel, die Fragen einer jungen Frau auf der Suche nach sich selbst, zwischen Welten und Werten. Antje Weber

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