Neue Taschenbücher:Eine junge Frau in einem fremden Haus

Ein Wirtshaus der Schmuggler, eine kurze Geschichte des schöpferischen Menschen, Innenansichten des Rassismus - das sind einige Taschenbücher des Monats.

Von SZ-Autoren

Eine junge Frau gerät in ein fremdes Haus und kann dort nicht heimisch werden

Neue Taschenbücher: Daphne du Maurier: Jamaica Inn. Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich und Christel Dormagen. Insel Verlag, Berlin 2020. 345 Seiten, 11 Euro.

Daphne du Maurier: Jamaica Inn. Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich und Christel Dormagen. Insel Verlag, Berlin 2020. 345 Seiten, 11 Euro.

Der Schankraum ist leer, durch die offene Tür dringt frische Novemberluft herein, das letzte Mondlicht malt einen weißen Kreis auf den Fußboden. An der Decke hängt an einem Haken ein Seil, das im Luftzug hin und her schwingt. Die junge Mary Yellan weiß das ominöse Stillleben zu deuten. In der Nacht hat sie eine Auseinandersetzung im Schankraum belauscht, ein Handgemenge, ein Schrei, Drohungen, gemeines Lachen, "Kitzel ihn mit der Peitsche, Joss, und lass uns die Farbe seiner Haut sehen". Die Leiche wurde zum Verschwinden gebracht im tückischen Moor um das Wirtshaus herum.

Ins Jamaica Inn kommen schon seit langem keine Gäste mehr, die Kutschen machen dort nicht mehr Station, nur an wenigen Abenden ist der Schankraum voll mit Landstreichern, Viehdieben, Wilderern. Das Haus ist von allen vier Seiten den Elementen an der Küste von Cornwall ausgesetzt. In manchen Nächten fahren Wagen vor, beladen mit Schmuggelgut, das wird vom Jamaica Inn aus weit ins Land weitertransportiert. Die Schmuggler sind auch Strandräuber, sie bringen Schiffe zum Zerschellen, töten erbarmungslos alle Menschen, die sich an den Strand retten wollen. Ihr Anführer Joss ist eine Bestie, ein "Wesen der Dunkelheit". Ein Relikt im "hellen neuen Jahrhundert", in dem Handel die Gesellschaften prägen soll.

Mary Yellan kam ins Jamaica Inn nach dem Tod der Mutter, sie will dort bleiben, um die Tante Patience aus der Gewalt des Onkels Joss zu retten. Mary leistet Widerstand, in einer brutalen zynischen Männerwelt. Dass solche Widerstandskraft bei ihr nicht so natürlich sei wie bei Männern, findet sie eine erniedrigende Erfahrung. Eine junge Frau, die in ein fremdes Haus gerät, das es ihr verwehrt, darin heimisch zu werden - Daphne du Maurier schrieb den Roman 1934, Alfred Hitchcock hat ihn verfilmt. Unter all den Schandtaten und Brutalitäten des Romans rumort eine revolutionäre Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, gegen die Deformationen der modernen Zivilisation. "Die alte heidnische Barbarei war nackt und rein dagegen." Fritz Göttler

Böses Capriccio

Neue Taschenbücher: Francesca Melandri: Alle, außer mir. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. btb, München 2020. 608 Seiten, 12 Euro.

Francesca Melandri: Alle, außer mir. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. btb, München 2020. 608 Seiten, 12 Euro.

Eines Tages sitzt ein schmächtiger Äthiopier vor Ilarias Tür und fragt nach ihrem Vater, der sei sein Großvater. Ilaria ist eine nüchterne, moderne Frau, die in Rom recht und schlecht ihren Weg geht. Man ist sofort mit ihr in ihrem Leben, da hat sie gerade genug andere Sorgen als einen hergelaufenen Asylanten. Aber irgendwie lässt sie sich ein auf den Fremden, hört ihm zu und erkundet den Hintergrund seiner, aber, wie sie merkt, eben auch ihrer eigenen Familiengeschichte über drei Generationen, angefangen mit dem menschenverachtenden Krieg Italiens gegen unterlegene Abessinier über die Verbrämung von Verbrechen zu großen Taten bis zum Italien ihrer Zeit, in der unter Berlusconi die letzten Elemente politischen Anstands verloren gehen. Im Zentrum steht der selbstgefällige Vater, der sich in die Demenz flüchtet, bevor ihn die Tochter nach seinen Übeltaten befragen kann. Francesca Melandri ist eine Meisterin darin, eine - auch dank der Übersetzung - fesselnde Handlung mit heiklen politischen Themen zu verbinden: abgeklärt, historisch verlässlich, erschütternd. Und zum Schluss komisch: Da überrascht sie im Stil der Commedia dell'arte. Rudolf von Bitter

Ein Soldatenleben

Neue Taschenbücher: Sebastian Barry: Tage ohne Ende. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2020. 272 Seiten, 12,80 Euro

Sebastian Barry: Tage ohne Ende. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2020. 272 Seiten, 12,80 Euro

Als Thomasina und Joanna verdienen die Waisen Thomas McNulty und John Cole ihr erstes Geld: In Frauenkleidern tanzen sie mit Bergleuten. Da sind sie noch Kinder, haben aber schon einen Narren aneinander gefressen. Sie werden lebenslang ein Paar sein; gemeinsam die "unselige" Armee überstehen, in die sie nach der "Tanz"-Zeit mit 17 eintreten und als "Soldaten der vorsätzlichen Vernichtung, der völligen Ausrottung" gegen die Indianer kämpfen und später dann, im Bürgerkrieg, auf Seiten der Union gegen die Südstaaten. Sebastian Barry ist Ire wie sein Icherzähler McNulty, der in "Tage ohne Ende" auf sein Leben als Soldat, Geliebter und zuletzt Vater einer indianischen Adoptivtochter zurückblickt: "Ich fühle mich als Frau ... trotzdem ich einen Großteil meines Lebens Soldat gewesen bin." Barry hat McNulty einen Slang in den Mund gelegt, der roh und zart, sarkastisch und naiv zugleich ist. Die an den Indianern begangenen Grausamkeiten werden blutig ausgebreitet. Der Frontier-Roman zeigt, was der Mensch dem Menschen anzutun im Stande ist, wenn er sich im Recht glaubt. Trotzdem bleibt der Glaube an die Liebe. Ein gewalttätiges, gewaltiges Buch. Florian Welle

Der kreative Mensch gegen die Natur

Neue Taschenbücher: Hans Blumenberg: Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. Reclam Verlag, Stuttgart 2020. 95 Seiten, 6 Euro.

Hans Blumenberg: Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. Reclam Verlag, Stuttgart 2020. 95 Seiten, 6 Euro.

Denken als Notwehr gegen die unerträgliche Gegenwart, das ist eine Variante eines grundsätzlichen philosophischen Mottos, die sich Hans Blumenberg zu eigen machte. Zu dieser Unerträglichkeit des Seins gehört die Beobachtung, dass der Mensch sich heute als kreatives Wesen versteht und die Natur als Steinbruch für technische Produkte. Blumenberg findet die Ursprünge dieses Denkens bei Aristoteles, der der Kunst zugestand, die Natur zu ersetzen oder sie legitim fortzusetzen: Wer ein Haus baut, tut nur das, was die Natur täte, wenn sie Häuser wachsen ließe. Nun ist der antike Kunstbegriff ein anderer und wir wissen nicht, ob Aristoteles diesen Satz auch über die Atombombe gesagt hätte. Blumenberg aber geht es um die Frage, wie sich der Mensch über die Natur erhob und das Verständnis von Kunst als "Nachahmung der Natur" hinter sich ließ. Wie dies mit einem radikalen Selbstverständnis des Menschen einherging und "die Lösung des Naturbezuges durch die historistische Selbstvergegenständlichung des Kunstprozesses" bereits bei Parmigianino zu beobachten ist. Dies alles kann man historisch genau auf knapp fünfzig Seiten spannend nachlesen. Helmut Mauró

Innenansichten des Rassismus

Alexi Zentner Eine Farbe zwischen Liebe und Hass

Alexi Zentner: Eine Farbe zwischen Liebe und Hass. A. d. Englischen v. Werner Löcher-Lawrence. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 376 S., 18 Euro

"Made in America" ist zu teuer, deshalb sind nur noch schlechte Jobs zu haben, hier in Upstate New York. Cortaca ist eine fiktive Universitätsstadt, gleicht aber den unzähligen amerikanischen Provinznestern, deren makellose Fassaden triste Trailerparksiedlungen verdecken. Eine gärende Wut auf alle, denen es besser geht, ist hier an die Stelle der Trostlosigkeit getreten. Der 17-jährige Footballstar Jessup entstammt einer dieser Wohnwagen-Familien. Bruder und Stiefvater sitzen wegen Mordes an zwei schwarzen Studenten im Gefängnis, die Mutter betet in einer Kirche, die nationalistische "White Supremacy" predigt. Der amerikanische Autor Alexi Zentner macht seinen dritten Roman "Eine Farbe zwischen Liebe und Hass" zu einer moralischen Befragung. Wie können Einzelne sich ihres tief verwurzelten Rassismus bewusst werden und gegen institutionelle Unterdrückung stellen? Das nimmt in Jessups Schilderungen bisweilen melodramatische Züge an, doch schafft Zentner es, seine Figuren menschlich zugänglich zu machen, ohne ihr Handeln zu entschuldigen und macht den Zynismus spürbar, mit dem Ressentiments Klassenunterschiede zementieren. Sofia Glasl

Glänzend vermessen

Neue Taschenbücher: Dietmar Dath: Hegel. 100 Seiten. Verlag Philipp Reclam, Ditzingen 2020. 102 Seiten, 10 Euro.

Dietmar Dath: Hegel. 100 Seiten. Verlag Philipp Reclam, Ditzingen 2020. 102 Seiten, 10 Euro.

Der Journalist, Marxist und Science-fiction-Historiker Dietmar Dath stemmt das scheinbar Unmögliche, versucht, Georg Wilhelm Friedrich Hegel auf 100 Reclam-Seiten einzudamfen. Und kokettiert frech mit dem Selbstzweifel: "Ließe das, was Hegel gedacht hat, sich auf 100 Seiten mitteilen, wäre Hegel ein Schwätzer gewesen, er hat ja Tau-sende von Seiten damit vollgeschrieben. Hegel war aber kein Schwätzer . . ." Auf geht's in die Tiefen des 'Geistes', zur eisernen Dialektik 'These, Antithese, Syn-these', in den - subjektiven, objektiven - Idealismus, die Gewissheit also, die ganze Welt sei nur Denken - oder doch nicht? Dath hat seine Hegel-Regalmeter verdaut, nur, wenn dadurch "Hegel klarer" wird, "muss diese Klarheit nicht zwingend richtiger sein als die Unklarheit". Fast irre Komplexität der Denkmechanik führt in die Höhen schierer Gedankenlust und mancher Leute falsche Beobachtung, dass Hegel nur "Begriffe in die Begriffe schraubt, ohne in der Wirklichkeit nachzugucken". Dietmar Dath hat sich 100-seitig getummelt in Hegels Prinzipien vom 'Widerspruch'. Am Ende Tipps: "Meine liebsten Hegelwegweiser". WOLFGANG SCHREIBER

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