Süddeutsche Zeitung

Neue Taschenbücher:Alles brennt

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Die Taschenbücher des Monats mit der "Ästhetik der Müdigkeit", einem neuen Krimi von Simone Buchholz, Marilynne Robinsons "Gilead", einem kleinen Einführungsband zur Mafia und Guy Deutscher über "Die Evolution der Sprache".

572 Kilo um 17.56 Uhr: Petra Reski liefert Fakten zur Mafia

Die Bombe explodierte am 23. Mai 1992, um 17.56 und 48 Sekunden, in einem Abflussrohr unter der Autobahn vor Capaci. Der Richter Giovanni Falcone, der gegen die Mafia ermittelte, seine Frau und drei Leibwächter wurden getötet. Die Bombe war 572 Kilo schwer, von Seismografen wurde die Explosion als ein kleines Erdbeben registriert. 57 Tage später, am 19. Juli 1992, wurde Falcones Mitstreiter Paolo Borsellino in die Luft gejagt, vor dem Haus seiner Mutter in Palermo, mit seinen fünf Leibwächtern.

Die beiden brutalen Aktionen machten den Italienern die Macht der Mafia bewusst, ihre enge Kollaboration mit der Politikern, das Gemenge von Korruption, Geldwäsche, Drogenhandel, Stimmenverkauf.

Im Reclam-100-Seiten-Buch zur Mafia von Petra Reski ist der Borsellino-Mord wie ein Naturereignis. "Wir saßen stumm da und sahen den Krater, die aufgeworfene Erde, die Autowracks, Polizisten, Sanitäter. Wir hörten das Heulen der Sirenen, die stammelnden Reporter, das Geschrei und das Geräusch rotierender Hubschrauberblätter. Es war ein Gefühl, als wäre aus den Tiefen des Ozeans plötzlich eine Bestie aufgetaucht, hätte alles verschlungen und wäre wieder abgetaucht. Zurück blieb ein Meer, das wieder still war, nur auf der Oberfläche trieben noch Trümmer und Holzplanken."

Petra Reski lebt seit Langem in Italien, sie blickt gleichzeitig von innen und immer noch von außen auf die Mafia, ihre Geschichte, ihren Mythos von Filmen, Büchern und TV, "The Godfather" oder "Gomorrha", die touristische Folklore. Der Mythos wird abgeblättert in diesem Buch, der Kodex, der Familiensinn, Schutzgeld und Entführungen, die enge Verbindung zur Kirche, der unbesiegbare Krake, ein Staat im Staate. Reski rückt alles zurecht, zeigt die neue Mafia, die seit der Globalisierung in höchsten Finanzkreisen operiert. Auch in Deutschland, das mehr ist als ein "Rückzugsraum". Deutsche Firmen kooperieren längst, Bauunternehmer oder Banken. "Kurz: Deutschland ignoriert die Mafia bewusst, weil Deutschland von der Mafia profitiert." Fritz Göttler

Die Sprache, ein Entwicklungsland

Natürlich muss man optimistisch bleiben. Niedergang ist Wandel und Verarmung ein Paradigmenwechsel. Die Frustration darüber, dass die eigene Sprache, kaum ist man erwachsen, wieder eine ganz andere ist, und auch in den nächsten zehn Jahren vielfach neu gelernt werden muss, macht den Menschen zu schaffen. Die Besserwisser-Branche vom Kabarett bis zur Germanistikprofessur lebt leidlich davon. Interessant wird es, wenn man den Blickwinkel weitet, wie das der israelisch-britische Linguist Guy Deutscher in seiner Untersuchung verschiedener Sprachen unternimmt. Die gerade im deutschen Sprachraum enge Verbindung von Linguistik und Philosophie ist ihm allerdings suspekt. Dass etwa Humboldt in der Struktur von Wörtern die "Seele einer Sprache" sah und wie andere seiner Zeit den Grad an Komplexität mit einem "Stand der Vollkommenheit" gleichsetzte, wertet er als absurdes Vorurteil. Das kann man, das muss man vielleicht sogar, um den Blick freizubekommen auf die wesentlichen Bedingungen der Sprachentwicklung. Wenn man sich für diese interessiert, aber keine Lust hat auf dröge Fachliteratur, ist man hier richtig. Helmut Mauró

Auf der Spur brennender Autos

Es gibt ja diese kleinen Warnhinweise, wenn in einer Gesellschaft etwas schiefläuft. Fehlende Kitaplätze, schließende Kulturinstitutionen, außer Kontrolle geratene Mieten. Dann gibt es noch die deutlicheren Signale. Brennende Autos, zum Beispiel. In Simone Buchholz' neuem Kriminalroman brennen sie in Hamburg jede Nacht. Und in einem sitzt noch jemand. Für welche Problemstufe brennende Menschen stehen, malt sich die abgebrühte Staatsanwältin Chastity Riley lieber nicht im Detail aus. Dabei ist sie nicht der Typ, der wegsieht. "Wenn wir eine ordentliche Regie hätten, würde jetzt irgendwas mit einem Mordsknall von der Decke fallen." Tut es aber nicht. An den Ton dieser Ermittlerin muss man sich erst gewöhnen, dann entwickelt ihre zynische Selbstironie in Kombination mit den kurzen, konzentrierten Kapiteln aber eine Sogwirkung, wie sie nicht vielen Autoren gelingt. Die Spur der brennenden Autos führt ins Milieu der arabischstämmigen Clans, wo teure Karren die härteste Währung sind und Probleme mit Gewalt gelöst werden. "Mexikoring" ist ein schneller Krimi über Parallelgesellschaften, die es nicht nur in Form krimineller Großfamilien gibt. Nicolas Freund

Im beschädigten Herzen von Amerika

"Man kann etwas zu Tode kennen und doch nicht das Geringste davon wissen.", notiert Reverend John Ames auf dem Sterbebett an seinen sechsjährigen Sohn. In einem Briefmonolog erzählt er rückblickend von der Predigerfamilie im Mittleren Westen, vom Großvater, der im Sezessionskrieg für die Abolitionisten kämpfte und vom Bruder, der lieber Feuerbach statt Calvin studierte. Ein kleines Leben war das in Armut, Einsamkeit und voller Zweifel. Der alte Mann wirkt wie aus der Zeit gefallen und doch fragt er beinahe beiläufig nach der Bedeutung von Religion und Moral für die Gesellschaft, skizziert Rassismus als generationenübergreifendes Problem. Große Themen sind das, die auch heute noch die Seele der USA erschüttern. "Gilead" heißt der fiktive Ort im beschädigten Herzen Amerikas, an dem die Ames-Familie dem Dasein trotzt, und der zugleich namensgebend für Marilynne Robinsons Roman ist, der ihr 2005 den Pulitzer Preis einbrachte. Zugleich ist er Auftakt ihrer Iowa-Trilogie, die sich in "Zuhause" und "Lila" mit John Ames bestem Freund Boughton und seiner Ehefrau Lila beschäftigt. Alle drei Teile sind schon jetzt moderne Klassiker, aber aktueller denn je. Sofia Glasl

Soziologie des Alltags

Georg Simmel hat über die moderne Großstadt nachgedacht und eine bahnbrechende Philosophie des Geldes entworfen - beides prägt unser Leben, sein Tempo, bis heute. Der Soziologe, dessen 100. Todestag sich kürzlich jährte, war ein Abenteurer des Geistes. Ein Bändchen mit ausgewählten Texten macht seine Originalität erneut anschaulich. Vom lebensphilosophisch durchwirkten Duktus der Sprache - oft ist von "Tragik" und "Seele" die Rede - sollte man sich dabei nicht abschrecken lassen, nur die Fremdheit wahrnehmen. Simmel schreibt über Mode und Essen, Treue und Koketterie, betont hier die Bedeutung des verhüllenden Schmucks im Spiel zwischen Geben und Versagung. Häufig legt er sein Augenmerk auf den Körper, nicht nur den des Menschen. Eine der schönsten Miniaturen, neben dem Text über die "Ruine", behandelt den Henkel. Der bildet im gelungenen Fall "mit dem Vasenkörper eine ästhetische Anschauung". Passt aber die Form nicht zur Vase, etwa weil sie zu eigenwillig gestaltet ist, wird "die Einheit des Eindrucks" zerrissen, entsteht "ein widerwärtiges Bild". Simmel: Er konnte auch ein Mann des entschiedenen Wortes sein. Florian Welle

Müdigkeit als Chance

Spätestens seit Herankunft der Smartphones bleibt kaum ein freier Augenblick von Konsum und Kommunikation verschont, selbst der Schlaf will kurz und effizient gestaltet werden. Der Optimierungswahn und unsere Kultur des 24/ 7 sind überfordernd, einzig die Müdigkeit zwischen Wachen und Schlafen widersetzt sich. Der Philosoph Fabian Goppelsröder begibt sich in seinem lesenswerten Essay auf die Suche nach jenem anderen Verhältnis zur Welt, das den schalen, reibungslosen Leerlauf der Zweckrationalität unterläuft. In Literatur, Medienkunst und vor allem französischer Philosophie spürt er mannigfaltige Fährten auf, die unseren Alltag als defizitär und die Müdigkeit als Reich ungeahnter Fülle erscheinen lassen. Dabei läuft die Frage nach dem "Wozu?" ins Leere, denn hier geht es nicht um den kreativitätsfördernden Powernap im Büro: Werden die gewohnten Wahrnehmungsmuster porös, so kommt ein anderes, reichhaltiges Denken und Fühlen jenseits der Effizienz zu seinem Recht. Diese ins Hintertreffen geratenen "Dimensionen intensiver Welterfahrung" gilt es nach Goppelsröder, durch eine "Dehnung der Sinne" freizulegen. Volker Bernhard

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SZ vom 16.10.2018
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