Neue SZ-Serie:Platz der Gesellschaft

Der öffentliche Raum ist das Beste, was unsere Städte zu bieten haben. Man muss diese urbane Bühne des Lebens wahrnehmen, wertschätzen und verteidigen, mehr denn je. Zu unserer neuen Serie "Europäische Plätze".

Von Laura Weissmüller

Die größte Errungenschaft kommt als ärgerliches Hindernis daher. Montagabend kurz vor Ladenschluss. Jetzt noch schnell den Roman kaufen, den man unbedingt für den Urlaub braucht. Doch zwischen dem eigenen Standort und der Buchhandlung liegt ein Platz voller Menschen, die nicht mal daran denken, aus dem Weg zu gehen. Warum auch? Sie nehmen die anderen Personen um sich herum ja gar nicht groß wahr. Die Jugendlichen am Brunnen sehen nicht die Rentner mit ihren Rollatoren, die Touristen aus den Emiraten nicht die Bettler aus Albanien und die Geschäftsfrau im Kostüm nicht den Flaschensammler mit der Plastiktüte.

Ein Platz, wie es in Europas Städten unzählige gibt. Zentral gelegen und bevölkert von den Menschen, die hier leben. Und zwar von allen. Das ist der größte Triumph dieser urbanen Erfolgsgeschichte, die von vielen als selbstverständlich genommen wird: Plätze sind Orte, wo sich die Gesellschaft trifft. Unabhängig von Kontostand und Religionszugehörigkeit, von Alter, Bildung und Geschlecht. Sie sind die Bühne für Begegnungen, was nicht bedeutet, dass man sich zwangsläufig kennenlernen muss. Im Gegenteil. Gesehen zu werden, ohne dem anderen aufzufallen, auch das ist etwas, was sich der europäische Platz auf die Fahne schreiben kann. Denn anders als in der eigenen Wohnung oder im Vorgarten bedeutet ein Fremder hier fürs Gegenüber keine Bedrohung, nicht mal eine Irritation löst er aus. Der öffentliche Raum, der sich auf europäischen Plätzen manifestiert - begonnen im Mittelalter, ausgebaut seit der Renaissance -, schließt ein Friedensabkommen zwischen allen, die ihn betreten. Und er bietet freien Zugang für alle. Eigentlich.

Der freie Treffpunkt aller Bürger ist bedroht: von Terrorangst und von kommerzieller Sabotage

Denn Europas Plätze sind in Gefahr. Bedroht von terroristischen Anschlägen und Amokläufen. Die Angst davor kann die beliebtesten Treffpunkte rasch entvölkern. Aber die Plätze werden auch bedrängt - nicht so sichtbar, auch nicht tödlich, dafür nicht minder schädlich für die Stadt - von immer mehr kommerziellen Sabotageakten, die den vermeintlich öffentlichen Platz okkupieren und nur noch denen zugänglich machen wollen, die etwas konsumieren, die sich einen Kaffee für 3,50 Euro leisten können - oder die Innenstadtwohnung für 3000 Euro Miete im Monat.

Nicht zuletzt setzt unser stetig wachsendes Sicherheitsbedürfnis den Plätzen zu: "CCTV cameras in 24 hours use", "Dieser Platz wird videoüberwacht" - grellgelbe Warnschilder mit solchen Botschaften gehören immer häufiger zur Grundausstattung. Was die Kameras bringen und ob sie überhaupt irgendwelche Gefahren verhindern können, ist völlig unklar. Klar dagegen ist nur, dass sich jeder, der sich dorthin begibt, einer Dauerüberwachung ausliefert. Das Wort öffentlich bekommt dadurch einen fatalen Beigeschmack.

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Sergels Torg, der Platz im Herzen der schwedischen Hauptstadt, zeigt, dass eine demonstrative Architektur der Öffnung auch ihre Risiken hat.

(Foto: imago)

Der europäische Platz ist deswegen der Ort, wo der aktuelle Zustand der Gesellschaft, ihre Risse, Konflikte und Sorgen, aber auch ihre Träume und Hoffnungen am sichtbarsten zutage treten. Die städtebaulichen Debatten darüber betreffen nicht nur ein paar Architekturspezialisten. Wer die Größe der neuen Reihenhäuser analysiert oder das Einkaufsverhalten, bekommt immer nur den Zustand eines gesellschaftlichen Milieus zu fassen. An frei zugänglichen Plätzen hingegen spiegelt sich das Leben aller wider. Zum Beispiel der Umgang der Geschlechter miteinander. Kann eine Frau ohne Kommentar und abschätzige Blicke allein über den Platz flanieren oder wird sie das tunlichst unterlassen? Herrscht eine Kleiderordnung oder nicht? Der zentrale Stadtplatz ist in einer Demokratie aber auch der Ort für Demonstrationen sämtlicher politischer Couleur, auch das gehört zu seinen Errungenschaften, selbst wenn man angesichts von Pegida und AfD darüber verzweifeln könnte.

Und er ist der Platz für Randgruppen. Nirgendwo sonst wird die Flüchtlingskrise, die diesen Kontinent seit vergangenem Jahr endgültig erreicht hat, so sichtbar wie an seinen Plätzen. Flüchtlingsunterkünfte liegen meist irgendwo versteckt am Rande der Stadt. Sie kann man leicht übersehen. Doch wenn die Menschen mal etwas unternehmen wollen, dann steht ihnen nur der öffentliche Raum zur Verfügung. Sie haben kein Geld für Cafés, Kino, geschweige denn für ein Auto, das sie irgendwo hinbringen könnte. Der Platz bietet ihnen die Bühne, die ihnen die Gesellschaft in anderen Bereichen des Lebens - am Arbeitsplatz zum Beispiel oder in der Ausbildung - noch nicht geben will oder geben kann.

Damit bietet dieser Ort ein Schauspiel, das nicht immer gefällt. Es fordert heraus und zwingt, sich mit Konflikten auseinanderzusetzen, auch mit den Konflikten zwischen verschiedenen Nutzungen und der Konkurrenz von Verkehrsmitteln. Das ist anstrengend. Doch was es bedeutet, wenn diese Konfrontation fehlt, zeigen Plätze, die ihre Bühnenfunktion verloren haben, weil sie einen Teil ihrer Schauspieler, aber auch Zuschauer aussperren. In vielen Ländern und Städten ist das so, zum Beispiel in Manila oder Peking, denn schöne Plätze, begrünt, mit Wasserspiel und Parkbänken für alle, wird man hier fast nur noch in Shoppingmalls oder teuren Wohnanlagen finden, wo Sicherheitspersonal die Zugänge kontrolliert. Öffentlich und frei zugänglich ist von ihnen keiner.

Aber auch auf Plätzen, die es sind, kann etwas Entscheidendes fehlen. Gar nicht mal so fern der touristischen Zentren von Paris, London oder Berlin, aber doch durch fehlenden öffentlichen Nahverkehr abgeschnitten und abgeriegelt durch Wohnsilos, die nur eine Bevölkerungsgruppe kennen, liegen Plätze, auf denen das gesellschaftliche Mischverhältnis nicht mehr stimmt. Zum Beispiel in den Banlieues, in Tottenham oder Marzahn. Hier wird man keinen Anzugträger sehen und auch keinen Urlauber, der die Abendsonne genießt. Und das, obwohl viele dieser Plätze gezielt für ein besseres Miteinander angelegt wurden. Aber was hilft die schönste Gestaltung, das stilvolle Mosaik am Boden oder das ausgefeilte Wasserspiel, wenn die Gesellschaft nicht mehr daran teilnimmt?

Diese Teilnahme gilt es zu verteidigen. Der erste Schritt dazu: das Spektakel auf der urbanen Bühne wahrzunehmen und wertzuschätzen. Und deshalb beginnt hier jetzt eine SZ-Serie, die in den kommenden Wochen eine Reihe von europäischen Plätzen besucht. Sie sind das Wertvollste, was unsere Städte zu bieten haben.

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