Süddeutsche Zeitung

Neue Stimme aus Dänemark: Jonas Eika:Bis die Erde lila leuchtet

Lesezeit: 5 min

Queer, masochistisch, messianisch: Der dänische Shooting-Star Jonas Eika bringt einen völlig neuen Ton in die Zukunftserzählungen. In seinen Novellen "Nach der Sonne" löst er alle körperlichen Grenzen auf.

Von Sophie Wennerscheid

Die Operation am offenen Herzen ist eine riskante, aber medizinisch anerkannte Maßnahme zur Lebensrettung. Weniger gefährlich, aber weitaus umstrittener ist die Arbeit sogenannter Bodyhacker, die Menschen Nahfrequenz-Chips injizieren, um damit Türen zu öffnen oder elektronische Geräte zu steuern. Hier geht es nicht um die Rettung von Leben, sondern um die technologisch induzierte Optimierung des Menschen.

In der Novellensammlung "Nach der Sonne" des dänischen Autors Jonas Eika kommt es zu sehr viel bizarreren Eingriffen in den menschlichen Körper. In "Rachel, Nevada", der mittleren der fünf Novellen, lesen wir von einem alten Mann, Antonio, der nach dem Tod seiner zwei erwachsenen Töchter ein neues Zuhause für seine Gefühle sucht. Er wird es in der unendlichen Weite der Wüste Nevadas finden.

Während seine Frau sich den örtlichen Ufologen angeschlossen hat und ihnen im örtlichen Pub Little A'Lee'Inn Vorträge über Science Fiction hält, wandert Antonio nachts in der Wüste umher und entdeckt dort einen Gegenstand, der an den schwarzen Monolithen aus Stanley Kubricks "2001: A Space Odyssey" von 1968 erinnert und einen merkwürdigen Ton von sich gibt, eine Art Schrei. Der Schrei des Gegenstandes, den der Mann "den Sender" nennt, verfügt über eine gleichsam magische Wirkung. Alle Wüstenpflanzen, Kriech- und auch Säugetiere zieht es zu ihm hin: "In einem verfilzten Knäuel aus Fell und Schnauzen schoben sie sich aneinander vorbei, ein Mufflon, drei Gabelböcke und eine Flut von Präriehasen."

Antonio jedoch will dem Sender noch ganz anders nahe sein als die anschmiegsamen Tiere. Und drei Jahre nach der Entdeckung des Senders ist er endlich bereit. Er bricht ein Stück aus dem anorganischen Körper des Senders heraus, fügt sich einen tiefen Schnitt in die Luftröhre zu und implantiert das Teilstück in die eigene Kehle. Kaum kann er den Schmerz aushalten. Doch nicht ein einfacher Schmerzensschrei ist hier gefragt. Antonio muss den Schrei des Senders in sich selbst erzeugen. Nur so kann er mit dem obskuren Objekt der Begierde eins werden. Und es gelingt. Er schreit, er singt, es ist so, "als würde jemand oder etwas seine Kehle zum Klingen bringen und als Nebeneffekt die Erinnerung eines fernen, wüstenartigen Lebens aktivieren".

Eine Sinnlichkeit, die brutal anmutet, aber mit der Kraft des Poetischen verwoben ist

Auch in der zweigeteilten Novelle "Bad Mexican Dog" werden Körpergrenzen aufgehoben und damit eine neue Form von Gemeinschaft zelebriert. Ein 15-jähriger Ich-Erzähler berichtet im ersten Teil von Beachboys, die im mexikanischen Urlaubsparadies Cancún ihr Geld verdienen, indem sie sich reichen Touristen gefällig machen. Als einer der Boys im Affekt von einem Besucher erschlagen wird, praktizieren die anderen ein erotisch-mystisches Ritual. Sie versammeln sich um den Leichnam, stimmen einen repetitiven Gesang an und haben mit umgekehrt in den Sand gesteckten Sonnenschirmen Analsex bis Blut und Sperma fließen und den toten Ginger ins Leben zurückholen.

Doch nicht nur das, was erzählt wird, mutet seltsam an, auch die Art des Erzählens taucht die Szene in ein schräges Licht. Wie die verschiedenen Dinge - die Liegestühle, die Menschen, das Meer selbst - ihre Kontur verlieren und wieder Form annehmen, löst sich die feste Struktur mancher Sätze auf. "Als wir auf der Umkleidebank sitzen, orange funkelnde Messer in Orange die Sonne versunken in Booten und Meer, steht Manu auf und zieht mich ins Bassin." Die Frage, was hier geschieht, treibt nicht nur Eikas Leserinnen und Leser um, sondern es stellt sie in der Novelle auch ein junges Paar aus Dänemark, das am Strand von Mexiko Urlaub macht.

In einer vom übrigen Text abgehobenen Schrifttype wird erzählt, wie die beiden sich darauf einlassen, bei einem Kurzfilm mitzumachen, den einer der Beachboys drehen will. Er selbst wolle einen Hund spielen, der ihr die Füße leckt, die junge Frau solle ihn demütigen, ihr Freund möge das bitte filmen. Darauf einzugehen, ist keine gute Idee. Das stellt sich spätestens im zweiten Teil der Novelle heraus, die den Band abschließt und von der wir dann auch verstehen, warum sie den Titel "Bad Mexican Dog" trägt.

Doch nicht das Hundethema und das damit in den Erzählraum gestellte Problem von Macht und Kapital, Unterwerfung und Betrug, steht im Zentrum der Erzählung, sondern die eigenartigen Facetten einer Sinnlichkeit, die in die Welt eingreift und sie formt. Eine Sinnlichkeit, die brutal anmutet, die aber auch eng mit der Kraft des Poetischen verwoben ist. Dinge und Worte hängen in Eikas erzählter Welt auf eine Art und Weise zusammen, die es in der entzauberten Spätmoderne eigentlich nicht mehr geben kann. Eikas Figuren können so singen, dass sich über dem Wasser, das schleimig ist vor Ejakulat, ein Körper materialisiert und zum Resonanzraum für das Gesungene wird. Sänger und Gesungenes werden eins: "Als das Wort das Ding ergriff, nahm das Ding das Wort zu sich und zog es mit einem Platschen ins Wasser hinab." Eine posthumane Schöpfungsmythologie, die den ersten Versen des Johannesevangeliums nachgebildet ist. "Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott" - und etwas später, wir wissen es, wird es Fleisch. An performativer Kraft steht Eikas Sprachmagie der des Johannes in nichts nach. Nur dass das singend geschaffene Ding mit einem Platsch ins Wasser fällt, nimmt dem Geschehen etwas von seiner Aura des Weihevollen und lässt Humor aufblitzen.

Seine Texte sind so queer wie der Autor, sie haben eine Botschaft, ohne engagierte Literatur zu sein

Mit "Nach der Sonne" schafft der 1991 geborene Eika eine neue Form der Zukunftserzählung. Dystopie und Utopie verschmelzen im lila-orange flirrenden Licht einer untergegangenen Sonne, in der die eigentümlich erregenden Körper wie fluoreszierend leuchten. Zu dieser Erregung trägt auch der messianische Ton von Eikas mystisch-vitaler Ästhetik bei. Er durchzieht die Novellen mit einem metallischen Klang, der die Sehnsucht von Menschen hörbar macht, die vor der Verletzung des eigenen Körpers nicht zurückschrecken. Nicht Nihilismus und Verzweiflung treibt sie dabei an, sondern eine apokalyptisch gestimmte Dringlichkeit.

Eikas Texte rufen ein endzeitliches Denken auf, wie man es aus den Briefen des Apostels Paulus kennt, auf den in "Nach der Sonne" einmal verwiesen wird. Auch in der sozialrevolutionären Mystik einer Simone Weil findet es sich. Wie Weil mit ihrem spirituell geprägten radikalen Einsatz für die Unterdrückten gehen Eikas Figuren mit ihrem Leben bis zum Äußersten.

"Nach der Sonne", von Ursel Allenstein aus dem Dänischen übersetzt, ist das zweite Buch des jungen Autors. Es folgt dem 2015 erschienenen Roman "Lageret Huset Marie" (Das Lager Das Haus Marie), in dem zwar realistischer, aber nicht weniger exzessiv erzählt wird. Für beide Werke wurde Eika in Dänemark mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2019 erhielt er für "Nach der Sonne" als bislang jüngster Preisträger den renommierten Literaturpreis des Nordischen Rats.

Für Aufsehen sorgte außerdem, dass Eika in seiner Dankesrede in Stockholm mit deutlichen Worten den zunehmenden islamophoben Nationalismus der nordeuropäischen Länder anprangerte. Der im Publikum sitzenden dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen warf er vor, dass sie mit ihrer Migrationspolitik um Asyl suchende Familien auseinanderreiße und "Kinder wie Erwachsene in den sogenannten Ausreisezentren einer langsamen, zersetzenden Gewalt" aussetze.

In seinen Büchern findet Eika für seine Kritik an den herrschenden Verhältnissen eine subtilere Form. Seine literarische Sprache berührt, ohne pathetisch, sentimental oder belehrend zu sein. Seine Texte sind so queer wie ihr Autor. Selbstbewusst und sprachsicher zeigt Jonas Eika, dass Nähe da entsteht, wo Grenzen überschritten werden. So trägt das Buch eine gesellschaftliche Botschaft in sich, ohne littérature engagée zu sein.

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Quelle:
SZ vom 17.08.2020
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