Es ist ja so: Pop kann gar nicht unpolitisch sein. Niemals. Selbst wenn er es nicht direkt versucht, er ist es trotzdem. Manchmal trägt er seine Haltung ganz offen vor sich her. Wenn Kendrick Lamar in Ketten auf die Bühne der Grammys schlurft. Oder Beyoncé mit einer Black-Panther-Armee ins Super-Bowl-Stadion einmarschiert. Es geht natürlich auch ein wenig subtiler. Kurz vor der Brexit-Abstimmung im vergangenen Jahr veröffentlichten Portishead ein herrlich düsteres Cover des Abba-Hits "SOS" - Schwedenpop wird zum Horrortrip. Selbst Liebeslieder können zu Protestsongs werden.
Jetzt gibt es noch diese beiden neuen Songs von Mick Jagger. Der Frontmann der Rolling Stones hat sie sich selbst zum 74. Geburtstag geschenkt: "England Lost" und "Gotta Get A Grip". Solo, ohne die Stones. Diese beiden Songs sind, vorsichtig gesprochen, eine ganz neue Güteklasse von Polit-Pop. Sie sind so gewollt und offensichtlich politisch, dass sie in ihrer klischeehaften Phrasendrescherei schon wieder gänzlich unpolitisch sind.
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Beide Songs sind sowohl musikalisch als auch inhaltlich beinahe austauschbar. Vom Sound her ist das ganz klassischer Jagger. Der Beat rumpelt voran, in seiner dezenten Verschlepptheit ist er sogar angetäuscht zeitgenössisch. Gitarrenlicks, Mundharmonika-Hook, zack: "Anybody Seen My Baby" 2017.
Viel interessanter ist, was auf textlicher Ebene präsentiert wird. Eigentlich ginge es bei "England Lost" nur um ein verlorenes Fußballspiel, sagt Mick Jagger. Aber dann sei daraus irgendwie eine Antwort auf unsere verwirrenden und frustrierenden Zeiten geworden. Ein Ergebnis der Angst und Ungewissheit der sich verändernden politischen Situation. Mick Jagger macht jetzt also Polit-Pop. Und das nicht so subtil wie einst mit "Gimme Shelter". Ganz im Gegenteil.
An dieser Stelle einmal eine unvollständige Sammlung von Jaggers leeren Polit-Talk-Hülsen: "I'm tired of talking about immigration", "The man in the suits are taking all the glory", "Everybody's stuffing their pockets", "The news is all fake", "Immigrants are pouring in, refugees under your skin", "Chaos, crisis, instability, ISIS".
Das Ergebnis nach insgesamt knapp neun Minuten: England ist verloren, die Nachrichten lügen, die da oben auch, Flüchtlingskrise und irgendwas mit ISIS. Unklar bleibt, in welche Rolle Jagger da eigentlich schlüpft. Wessen Standpunkt nimmt er ein? Sein eigener wird es kaum sein. Den des kleinen britischen Mannes? Den des von der großen Politik enttäuschten Stones-Hörers? Wen will er denn entlarven? Und wen ansprechen? In seiner ausgestellten Politisierung verliert sich Jaggers Rundumschlag im Nichts.
Das ist nun sicherlich ein bisschen gemein, aber zum Abschluss muss man sich nach diesen beiden Jagger-Songs unbedingt ein Video des deutschen Komikers Dieter Hallervorden anschauen. "Ihr macht mir Mut (in dieser Zeit)" heißt es. Hallervorden hat es zu seinem 80. Geburtstag veröffentlicht und auch er war wohl verwirrt und verängstigt von diesen ungewissen Zeiten. Wie dieser alte Mann (Fans nennen ihn: unbequemen Systemkritiker) da gegen Griechenland, Großkapital, Rüstungsindustrie und Lügenpresse wettert, das hat im Duktus schon sehr verblüffende Ähnlichkeit mit Jaggers neuen Songs.
Immerhin: Letzterer hat sich für "England Lost" den Mercury-Preisträger und Grime-Musiker Skepta als Gast ins Studio geholt. Ein Rapper, der in brodelnden Tracks Geschichten aus den dunklen Ritzen der britischen Gesellschaft zieht. Dass England, anders als Jagger sagt, noch nicht verloren ist, liegt heute weniger an ihm als an Typen wie Skepta.
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