Neue Schlingensief-Aufführung:Alle sollen es wissen

Lesezeit: 4 min

An Egozentrik nicht zu überbieten: Dem Tod durch Krebs nur knapp entronnen, zelebriert Christoph Schlingensief seine "Aufstehungsmesse" in Duisburg.

Egbert Tholl

Chemotherapie, Operation, Bestrahlung, wieder Chemo. Die Litanei einer Krankheit. Tausende könnten sie jeden Tag beten. Aber nur einer feiert damit einen Gottesdienst - und Hunderte schauen dabei zu. "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" hatte bei der Ruhrtriennale seine Uraufführung. Christoph Schlingensief lebt. Und zeigt dies mit einem Oratorium, einer Messe, einem Gemeinschaftserlebnis unter ausschließlich einem Zeichen: Schlingensief.

Musiker, Darsteller und Angstspezialisten aus verschiedenen Kulturen: Christoph Schlingensief entwirft in der "Kirche der Angst" ein Gesamtkunstwerk aus Litaneien und Ritualen, die der Furcht nachspüren. (Foto: Foto: dpa)

Im Januar erfuhr Christoph Schlingensief, dass er an Krebs erkrankt ist. Die Ärzte entdeckten ein Adenokarzinom in seiner Lunge, den Lungenkrebs der Nichtraucher sozusagen. Bösartig, gefährlich, aggressiv. Oder, wie der behandelnde Arzt Doktor Bauer sagte: "Wir haben den Befund, und das ist große Scheiße."

Das Fremde im Körper, den Tod schnitten die Ärzte raus, sie entfernten einen Lungenflügel, sie bestrahlten Schlingensiefs Leib und pumpten Chemie hinein, er bekam eine Embolie, der Tod war wieder nah.

Jetzt geht es ihm gut, derzeit, vorerst. Diese Details erfuhr man kurz vor der Aufführung. Als Schlingensief zu Beginn des Jahres im Krankenhaus verschwand, hatte er noch schnell eine Nachrichtensperre verhängt.

Nicht schweigen

Der Schauspieler Udo Kier jedoch konnte nicht schweigen, und das große Rätseln über den Gesundheitszustand des Inszenierungskünstlers begann, bis Schlingensief in den letzten Wochen zahlreiche Interviews gab. Im Magazin dieser Zeitung wurde ein kleiner Ausschnitt aus seinem Tagebuch der Krankheit veröffentlicht. In der Aufführung begegnet man diesen Texten wieder. Von Exklusivität keine Spur, alle sollen es wissen.

Die Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord, in der ehemaligen Thyssen-Stahlhütte, ist der richtige Ort für die Aufführung. Sie ist das Herz der stillgelegten Hochofenanlage, ein Gewirr von Röhren und Leitungen geht von hier aus, wo einst die Luft in die Feuer der Öfen geblasen wurde.

Luft, Herz, Leitungen, Röhren - Schlingensief war noch nie zimperlich, was die Symbolkraft seiner Arbeiten betrifft. Lieber ein paar Bezüge zu viel, als welche zu übersehen. Von den Industriekathedralen zur Kirche ist es ein kleiner Schritt, ebenso von deren Zerfall zum Tod. An Stahl und Kohle glaubt niemand mehr, an die Kirche glauben immerhin noch viele.

Im Inneren der Gebläsehalle hat Schlingensief die Kirche seiner Kindheit nachgebaut: Herz Jesu in Oberhausen, vom Dach der Duisburger Hochöfen aus zu sehen.

Bis zum letzten Abendmahl

In dieser Kirche war Schlingensief Ministrant, hier wurde sein Vater im vergangenen Jahr ausgesegnet; gegenüber lag die Apotheke der Eltern. Doch die Kirche in der Gebläsehalle hat wenig von Heimat: ein schummriger Betonbau voller Wucht der schieren Größe, dessen Bogennischen tatsächlich an einen Sakralbau erinnern.

Schlingensief hat Kirchenbänke hineingestellt, bunte Fenster imitiert, eine Apsis geschaffen, einen Chorraum, den eine Ikonostasis vom Gemeinde- respektive Zuschauerraum abtrennt.

Auch wenn die nur ein weißer Vorhang ist, hinter dem Schattenspiele stattfinden und auf den Filme projiziert werden: Schlingensief kennt sich aus in einer Kirche, Ambo, Altartisch, alles da, bereit für die Liturgie, der der Abend in seiner Struktur ebenso vage wie mitunter explizit folgt. Bis zum letzten Abendmahl, das hier ein erstes sein soll, ein Neubeginn.

Doch auch in seinen privatesten Momenten - und "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" gehört natürlich zu diesen - ist Schlingensief immer ein Metakünstler, der sich durch den Kanon der Künste, egal welcher, wühlt und hervorzerrt, was ihm gerade zupass kommt.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie schonungslos sich Schlingensief in Duisburg selbst inszeniert.

Bildstrecke
:Christoph Schlingensief im Haus der Kunst

Hype im Haus der Kunst. Wenn Christoph Schlingensief ausstellt, kommen alle. Dabei ist das Enfant terrible ernst geworden - und seine Kunst eindringlicher als je zuvor.

In der Wahl der Mittel herrscht bei ihm stets die größtmögliche Demokratie. Das ist ein Grund, weshalb seine Inszenierungen Pilgerfahrten einer Szene auslösen, die dem abgesichertem Theatererlebnis misstraut und sich lieber einem Eskapismus aussetzt, der stets eine verborgene Saite im Betrachter zum Klingen bringt, auch wenn man den Rest vielleicht gar nicht versteht.

In der aktuellen "Kirche der Angst" - 2003 gründete er schon mal eine, eine viel weniger solipsistische, mit illustren Pfahlhockern bei der Kunstbiennale in Venedig - rekurriert Schlingensief selbst auf die Fluxus-Bewegung, im Untertitel des Stücks, auf Bannern im "Kirchenraum" und mit verwackelten Doku-Filmchen.

Ein Requiem auf das eigene Schaffen

Doch einen konkreten Erkenntnisgewinn bringt der Begriff nicht, denn Schlingensief war schon immer Fluxus: Er bediente sich aller Formen und gaukelte damit dem Publikum eine Mitwirkung vor, obwohl dieses nichts Wesentliches beizutragen hatte.

Es liegt also, auch ohne Krankheit, nahe, die Messe, in welcher die Autorität des Pfarrers Gemeinschaft stiftet, für Schlingensiefs naturgemäße Ausdrucksform zu halten.

Aus der Sicht von Schlingensiefs Gesamtwerk ist diese Messe zunächst ein Requiem, ein Requiem auf das eigene Schaffen. Prozessionen rasen den Mittelgang vor und zurück, im Chorraum versammeln sich die Freaks, die Spinner, die Behinderten, mit denen sich Schlingensief, sie liebevoll ausstellend, gern umgibt.

Eine Zwergin ist der Erzbischof, treibt die Ministranten an, allesamt im Alter von Schlingensief damals in Herz Jesu. Über die Leinwände huschen Schwarzweiß-Filme, Ausschnitte aus früheren Arbeiten, Material, das neu hergestellt wurde, auf dem Hüttengelände, auf dem er schon 1990 "Das deutsche Kettensägenmassaker" drehte.

Wagner, immer wieder Wagner

Viel Musik gibt es, live und vom Band: Ausschnitte aus Braunfels' Johanna-Oper, die im April dieses Jahres an der Deutschen Oper Berlin herauskam, in einer SchlingensiefInszenierung ohne Schlingensief.

Josef Bierbichlers Interpretation der "Winterreise" weht zart vorbei, Kirchenlieder und Wagner, immer wieder Wagner. Der "Liebestod" aus dem "Tristan", weil Schlingensief im Siechtum die Eltern hassen lernte. "Parsifal" natürlich, der Hase verwest im Zeitraffer wie weiland in Bayreuth.

Das alles wird atemlos ausgebreitet, wie um es wegzuwischen. Nun, da er die Krankheit überlebt hat, beginnt etwas völlig Neues. Aus dem Requiem wird eine Auferstehungs-Feier.

Schlingensief selbst vollführt die Wandlung, bricht mit seinen Freunden (nicht "Jüngern") das Brot, er macht sich selbst zum säkularen Heiland, vor der riesigen Monstranz mit dem Röntgenbild seiner Lunge.

Das alles ist an Egozentrik nicht zu überbieten, aber auch nicht an Schärfe. Wer mit 47 dem Tod so nahe stand, der darf wohl beleidigt sein, verletzt, kalt. Kalt gegenüber seinem eigenen Glauben. Der darf sich als Zentrum der eigenen Welt fühlen. Der darf seine Krankheitsgeschichte ausbreiten lassen, von Margit Carstensen und Angela Winkler.

Alles an diesem Abend ist Schlingensief und nur er. Irritiert schaut man zu, verstört, fassungslos. Und ja, auch bewundernd ob dieser Schonungslosigkeit.

© SZ vom 23.09.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: