Neue Rilke-Edition:Entdunkelung

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Im Disput mit früheren Interpretationen: An der Universität Osnabrück bereitet der Germanist Christoph König die erste Gesamtausgabe der Werke Rainer Maria Rilkes vor.

Von Alexander Menden

Die kalifornischen Waldbrände von 2018 vernichteten annähernd 4000 Quadratkilometer Land an der amerikanischen Westküste. Nebenbei lieferten sie aber auch ein unschönes Beispiel dafür, wie schwierig es ist, sich einen Überblick über alle Schriften Rainer Maria Rilkes zu verschaffen. Denn damals verbrannte auch die Villa des Entertainers Thomas Gottschalk in Malibu, und mit ihr ein bedeutendes Rilke-Manuskript. Gottschalks Frau gelang es zwar, Katzen und Katzentoilette zu retten, doch das Autograph des vielleicht berühmtesten Rilke-Gedichts "Der Panther", das in Malibu an der Wand gehangen hatte, wurde ein Raub der Flammen.

"Dieses Blatt war nirgends registriert" sagt Christoph König. "Wir erfuhren erst davon, als es schon vernichtet war." Es war eine bemerkenswerte Informationslücke, und genau solche Lücken zu schließen - nach Möglichkeit, solange die betreffenden Dokumente noch existieren - hat König sich zur Aufgabe gemacht. Der gebürtige Österreicher, Germanistikprofessor an der Universität Osnabrück, ist derzeit der vielleicht weltweit bestinformierte Rilke-Forscher, wenn es um Manuskripte des Dichters geht. Sein Büro nahe dem Osnabrücker Neumarkt dient als Schaltzentrale eines ambitionierten editorischen Projekts: Christoph König bereitet nichts Geringeres vor, als die erste vollständige, kritische und kommentierte Ausgabe von Rainer Maria Rilkes sämtlichen Werken.

Die quasi-religiöse Verehrung des Autor ist für die Wissenschaft eine hohe Hürde

Es ist kaum glaublich, dass es eine solche Ausgabe noch nicht gibt. Tatsächlich wurde der bis dato einzige Versuch einer Gesamtausgabe, und damit die bisherige Referenzausgabe, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren vom Tübinger Altphilologen Ernst Zinn im Insel-Verlag herausgegeben. Neben seinem Kerngebiet, der antiken Literatur, hatte Zinn sich früh auf Rilke spezialisiert.

Schon 1951 gab er den Briefwechsel Rilkes mit der Mäzenin Marie von Thurn und Taxis heraus, dann folgte von Mitte der Fünfzigerjahre an die Werkausgabe. Diese ist heute nur antiquarisch oder in Bibliotheksbeständen zugänglich. "Dass sie nicht mehr lieferbar ist, bildet für sich genommen schon ein Skandalon" sagt Christoph König. "Rilke war einer der bedeutendsten Dichter deutscher Sprache, und wahrscheinlich auch der weltweit bekannteste." Eine kommentierte Auswahl von 1996 basiert auf Zinn, und ist ebenfalls vergriffen. Die einzige derzeit bestellbare Gesamtausgabe ist daher die chinesische, natürlich in Übersetzung.

Ernst Zinns Arbeit, die König lobt und auf die er sich in seiner eigenen ausführlich bezieht, ist in zweierlei Hinsicht überholt: Sie ist zum einen nicht vollständig, denn seither sind weitere Texte aufgetaucht, beispielsweise "Das Testament", ein Schlüsseltext von 1920, oder das "Berner Taschenbuch", ein Werkmanuskript des Romans "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". Zum anderen hatte Zinn von Verleger Anton Kippenberg die Anweisung, alles, was die Werkgenese betraf, in der Ausgabe wegzulassen. "Ein textkritischer Apparat schien Kippenberg zu überfrachtet mit Philologie", erklärt König. "Er befürchtete wohl, Rilke würde durch eine zu genaue Analyse die geheimnisvolle Aura genommen." Jene Verrätselung der Welt, für die Rilkes Dichtung steht sowie die daraus resultierende quasi-religiöse Annäherung der Nachwelt an ihn, bildet eine nicht zu unterschätzende Hürde für die wissenschaftliche Auswertung.

König interssieren besonders die Missverständnisse und Fehlinterpretationen

"Dabei ist die dunkle Aussage nicht dunkel, weil sie etwas verbergen will", sagt Christoph König, "sondern weil die Komplexität seiner Reflexion in nichts anderes münden kann als in Dunkelheit - aber was geheimnisvoll erscheint, basiert doch auf einem unglaublich klaren Denken." Der Germanist sieht seine Aufgabe als Werkwissenschaftler darin, einen "imaginären Disput" mit früheren Interpretationen von Texten zu führen. "Dabei interessiert mich besonders das, was als Missverständnisse oder Fehlinterpretationen in der Fachgeschichte gesehen wird."

König, Jahrgang 1956, leitete von 1986 bis 2005 am Literaturarchiv in Marbach die Arbeitsstelle zur Erforschung der Geschichte der Germanistik; 1997 habilitierte er sich in Berlin bei Ernst Osterkamp. Seit 2005 lehrt er in Osnabrück. Eine direkte biografische Verbindung mit Rainer Maria Rilke hat die niedersächsische Stadt nicht, wohl aber eine eher subtile, indirekte: Der wohl berühmteste Sohn Osnabrücks, Erich Paul Remarque, legte sich später neben dem Künstlernamen "Remarque" auch den Zweitnamen "Maria" zu - unter anderem um, wie es heißt, seine Verehrung für Rilke zum Ausdruck zu bringen. Dass eine aktuelle, umfassende Rilke-Ausgabe fehle, sei zwar geradezu absurd, sagt König - "jeder zweit- und drittklassige Autor hat heute eine Ausgabe inklusive Apparat mit Notaten und literarischen Bruchstücken, der die Entstehung des Werkes nachvollziehbar macht". Zugleich räumt er ein, welches Glück es für einen Geisteswissenschaftler sei, bei einem Autor dieses Formats noch solche Grundlagenarbeit leisten zu können. Das Osnabrücker Projekt begann 2018, mit Förderung der örtlichen Sievert-Stiftung für Wissenschaft und Kultur, ein Repertorium sämtlicher Manuskripte Rilkes zu erstellen. Es soll die Basis der Ausgabe bilden, zu der Christoph König und Thedel von Wallmoden, der Verleger des Göttinger Wallstein-Verlags, die Initiative ergriffen haben. Dieser publizierte 2012 schon in zwei Bänden das "Berner Taschenbuch". Es gab auch bereits Workshops zur Gesamtgestaltung.

Doch davor steht die Manuskripterfassung, und die ist nicht einfach - trotz der Unterstützung durch die Archive in Marbach, in Bern, durch die Fondation Rilke in Sierre und weitere große amerikanische und europäische Bibliotheken. Dass die Existenz mancher Manuskripte erst allmählich, manchmal, wie im Fall des Gottschalk-Blattes, per Zufall, bekannt wird, hängt vor allem in der Art zusammen, wie freigiebig Rilke damit umging, denn er verschenkte sie gerne an Freunde und Leser. Eine Spur bei der Suche liefern heute Archive, eine weitere Aufrufe an Privatleute, Manuskripte zugänglich zu machen, die dritte schließlich Auktionskataloge, die in Marbach lagern und systematisch durchgearbeitet wurden - dabei kamen bisher rund 300 Manuskripte zutage. Auch die Familie hat zugesagt, den Nachlass zugänglich zu machen. Hier gehe die Arbeit allerdings eher schleppend voran, da Hella Sieber-Rilke, die hochbetagte Ehefrau von Rilkes Enkel Christoph, zwar mehr als bereit zur Zusammenarbeit sei, aber mit ihren Kräften haushalten müsse, so König.

Die Edition soll einen Bogen spannen zwischen den Werkphasen

Weniger durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder über Drittmittel, sondern, wie König betont, "mäzenatisch" finanziert, soll das Ganze eine historisch-kritische Ausgabe, jedoch nicht im klassischen Sinne werden. Geplant ist nämlich eine Sammlung von rund 30 Einzelbänden. Sie werden chronologisch angeordnet sein, aber auch modular, sodass man mit jedem Teil gleichsam einen in sich geschlossenen Band erwirbt. "Es wird beispielsweise nicht einen Band mit Früher Prosa geben, in der ein Text wie etwa 'Der Cornet' dann sozusagen beerdigt ist, sondern einen separaten Band für alle Varianten dieser Erzählung." Der "Cornet" hat drei verschiedene Fassungen, die aber noch nie gemeinsam in einem Band editorisch-kritisch erschlossen erschienen. Das sei aber wichtig, denn: "In der letzten Fassung hat er eine ganz neue Sprache gefunden."

Das Hauptziel der Ausgabe ist zunächst rein pragmatisch: Rilkes Werk endlich wissenschaftlich eingeordnet greifbar zu machen. Christoph König will darüber hinaus aber auch "die Entwicklung seines Denkens und seiner Kreativität nachzeichnen." Im "Cornet", einem insgesamt recht konventionellen Rührstück, gibt es zum Beispiel eine Stelle, in welcher der Protagonist an einem Baum vorbeireitet, an den eine Frau gefesselt ist. "Da kommt das Wort 'bäumen' vor - darin verbindet sich die Bewegung der Gefesselten, die er noch nicht gesehen hat, mit der des Baums selbst. Das Wort Baum erscheint später im Werk dann nicht mehr nur als Pflanze, sondern als etwas, das eine Subjektivität in sich aufnimmt."

Genau diese Art des Bedeutungstransfers macht es dem Leser oft nicht leicht, ohne begleitenden Kommentar die Bedeutung des Rilkeschen Duktus zu erfassen. Hier sollen Querverweise eine bisher in diesem Umfang nicht verfügbare Hilfestellung geben, sollen "einen Bogen spannen vom Frühwerk, wo etwas angelegt ist, zu reiferen Arbeiten, in denen es sich entfaltet". Glaubt Christoph König, dass die Ausgabe helfen wird, nicht nur die geisteswissenschaftliche, sondern auch die allgemeine Wahrnehmung Rilkes zu verändern? "Ich hoffe, dass man ihn besser verstehen wird", antwortet er. Ziel der Gesamtausgabe, und hier verwendet König einen überaus rilkehaft klingenden Begriff, sei letztlich: "Entdunkelung".

© SZ vom 15.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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