Süddeutsche Zeitung

Neue Musik:Komponist Giya Kancheli gestorben

Er war ein großer Spieler. Der georgische Komponist Giya Kancheli jonglierte weitläufig mit Raum-Zeit-Konstrukten, die in seiner Musik zu organisch fließenden Formen von erstaunlichen Ausmaßen anwuchsen. Sein Engagement in der Film- und Theatermusik ist dabei durchaus spürbar: Er will starke Stimmungen erzeugen. Das eine oder andere Chorstück fiel dabei recht populistisch aus, auf schlichter Jazz-Harmonik aufbauend, mit windschlüpfrig summenden, raunenden Chormassen. Da wird der fundamentale Unterschied zur westlichen, zumal der strengen bundesrepublikanischen Avantgarde offenbar, da zeigt sich die Verbundenheit mit der polnisch-baltischen Klangtradition, wie sie Arvo Pärt oder Henryk Górecki erfolgreich pflegten - und dafür besonders hierzulande mit dem Vorwurf des Kitsches konfrontiert wurden.

Aber sie haben alle, und Kancheli ganz besonders, jenseits des auch materiellen Erfolgsdrucks beachtliche Werke hinterlassen, die über das breitenwirksame Hantieren mit musikalischen Effekten und Formen hinausgehen. "Vom Winde beweint" ist so ein Stück, das Kancheli mit einer schlichten Melodie einsetzen lässt, die wie ein neugieriger Fremder in den Raum tritt, um sich am Ende in schierer Verzweiflung zu verirren. Die Stille als pathetisch aufgeladener leerer Raum ist dabei ebenso ein Topos wie der rauschhafte Klangexzess spätromantisch-neoklassizistischer Prägung. Es ist aber auch ein Stück über die Erhabenheit der Melancholie und die Schönheit der Trauer, wie man sie in dieser harmonischen Großräumigkeit seit Richard Strauss nur noch sehr selten zu hören bekam. Am Mittwoch verstarb Giya Kancheli 84-jährig in seiner georgischen Heimatstadt Tiflis, in die er nach längeren Aufenthalten in Berlin und Antwerpen, wo er seit 1995 lebte, zurückgekehrt war.

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Quelle:
SZ vom 05.10.2019 / Helmut Mauró
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