Neue Filme in Venedig:Szenen aus dem Politzirkus

Die Kunst, sich selbst zu belügen: In Venedig wurden die Filme von Oliver Stone, Steven Soderbergh, Claire Denis, Jacques Rivette vorgestellt.

Susan Vahabzadeh

Der Lido ist eine Baustelle, des sich aus der Erde windenden neuen Festivalpalasts wegen, aber das passt auch gut zu den Filmen, die hier gezeigt werden - offenbar ist die ganze Welt renovierungsbedürftig. Das Kino bläst zum Angriff auf den Kapitalismus. Ausgerechnet jene Kunst, die das meiste Geld verbraucht, um ihre Maschine am Laufen zu halten. Nach Michael Moores "Capitalism: A Love Story" kam Oliver Stone, der außer Konkurrenz "South of the Border" zeigte - auch da geht es darum, wie ganze Völker in Geiselhaft gehalten werden aus wirtschaftlichem Interesse.

Stone und Chavez, Foto:afp

Filmemacher Oliver Stone und Venezuelas Regierungschef Hugo Chávez beim Shaking Hands in Venedig.

(Foto: Foto: AFP)

Nur hat Stone begriffen, dass das keine inneramerikanische Sache ist. Er wollte Hugo Chávez, den Regierungschef von Venezuela, von der anderen, der südlichen Seite Amerikas aus zeigen - wo er dann, anders als im US-Fernsehen, plötzlich kein Dämon mehr ist, sondern Bolívars Erbe, kein Diktator, sondern ein gewählter Präsident, kein Meinungsunterdrücker, sondern ein Demokrat, der sich gegen Putschisten wehrt.

Kriterium, das einen guten Film von einem schlechten unterscheidet

Stone ist quer durch Lateinamerika gereist, interviewt Chávez' Gefährten und Politiker, die ganz und gar nicht dem Sozialismus nahe stehen - und in Chávez dennoch einen Verbündeten sehen im Widerstand gegen den nördlichen Imperator, die USA, die seit der Monroe-Doktrin in Lateinamerika heimlich regieren wollen - besonders, seit es dabei um Öl geht.

Pauline Kael hat auf der Suche nach einem wirklich allgemeingültigen Kriterium, das einen guten von einem schlechten Film unterscheidet, mal geschrieben: Du nimmst alles, was du weißt und was du gesehen hast und woran du glaubst, mit ins Kino, und wenn du wieder herauskommst und nichts hat sich bewegt, hast du einen schlechten Film gesehen.

Verschwörung der Idioten

Stone, der sich wohl fühlt in der Rolle des Querulanten, bewegt mehr als Moores Wutbestätigungskino, doch er macht auf halbem Weg Halt. Auch er versucht die mediale Übermacht in den USA mit ihren eigenen Waffen zu schlagen - Verkürzung, Aussparung, Agitation. Und dann trotten Chávez und Stone traulich auf eine Maismehlmühle zu und Chávez kichert, hier baue er die iranische Atombombe. Stone fragt Chávez nicht, ob er sich der antisemitischen Implikationen seines Schulterschlusses mit Ahmadinedschad bewusst ist. Der Mann hat seine Karriere, Kopf und Kragen schon für nebensächlichere Fragen riskiert. Aber den Mut, auch seinen eigenen Glauben zu erschüttern, hat Stone hier nicht gehabt.

Um den Kriminalfall Kapitalismus geht es irgendwie auch in Steven Soderberghs fieser Komödie "The Informant!" - ebenfalls außer Konkurrenz -, um die Absurdität, die Ziellosigkeit, die vielen Dingen zugrunde liegt. Als der aufstrebende Biotechniker Mark Whitacre (Matt Damon) das FBI auf die Spur eines Preisabsprachenskandals bei der Mais-Verarbeitung, vom Dosenkolben bis zum Sirup, bringt, in dem er selbst eine tragende Rolle spielt, reagiert der Agent seines Vertrauens entgeistert: Was heißt das? Jeder Amerikaner wird Opfer von Wirtschaftskriminalität noch bevor er mit dem Frühstück fertig ist?

Whitacre führt das FBI auf die Fährte eines Wirtschaftskriminalfalls, betätigt sich jahrelang als Maulwurf und stilisiert sich selbst zum Helden, nur plündert er derweil die Firmenkonten und macht aus dem Belügen seiner selbst und anderer eine Kunstform - diese wahre schon irgendwie eine Moral, denn in einem Lügengespinst ist es unendlich schwer, die wirklich wichtigen Verfehlungen von den kleinen zu unterscheiden. Aber eigentlich geht es um groteske Orientierungslosigkeit - eine Verschwörung der Idioten, Gier ohne Ziel.

Der fröhliche, amüsierte Ton dieses Films ist zum Teil wirklich musikalisch, der "Informant!" wird von einem Score von Marvin Hamlisch vorangetrieben, der Scott Joplins Ragtime für den "Clou" fitgemacht hat; und "Die Firma" taucht mehrfach auf - ein leiser Gruß an den im vergangenen Jahr verstorbenen Sydney Pollack, an seine Art, vom hässlichen Verhältnis zwischen politischer Entscheidungsmacht und wirtschaftlichen Interessen zu erzählen, ohne je zu verzagen.

Traditionsgemäß ist Venedig das politische der drei großen Festivals, und es bleibt sich auch im Wettbewerb treu. Claire Denis, die letztes Jahr mit der kleinen, wunderschönen Vater-Tochter-Geschichte "35 Rhums" hier war, zeigte ihren großen Polit-Wurf: "White Material" erzählt von einer sturköpfigen weißen Frau, in einem unbestimmten afrikanischen Land zu einer unbestimmten Zeit.

Einfach nur irrational

Es ist oft ein schlechtes Zeichen, wenn Regisseure ihren Filmen die Verortung verweigern - und so kraftvoll Isabelle Hupperts Darstellung dieser Marie Vial auch ist, mit ihrer besessenen Liebe zu dem Land, in dem sie unerwünschter Gast ist, die konfuse Geschichte wirkt naiv und konstruiert. Es herrscht Bürgerkrieg, marodierende Kindersoldaten suchen die Kaffeeplantage heim, und wenn Marie die kleinen Fußabdrücke sieht - ihr Mann (Christophe Lambert) hat ihr längst von den bewaffneten Kindern erzählt -, sagt sie: Bestimmt nur Schäfer. Nicht aus Dummheit, sondern aus Wahnsinn - und es ist unendlich schwer, mit Figuren, deren Handlung jede Logik verloren hat, wirklich mitzufühlen. Der "Informant" Whitacre hat eine Maxime: Beim Lügen nicht erwischt werden und die Wahrheit sagen ist das selbe. Marie Vial ist einfach nur irrational.

Vielleicht erwartet Claire Denis einfach zu viel von ihren Figuren, und vielleicht fühlt man sich denen des alten Meisters Jacques Rivette so viel näher, weil er nur ganz wenig von ihnen will - ihnen beim Leben zuschauen. Eine kleine Zirkustruppe lässt sich durch Südfrankreich treiben in "36 Vues du Pic Saint Loup", der sich ein freundlicher Fremder (Sergio Castellitto) anschließt, weil er ein Auge geworfen hat auf die störrisch traurige Tochter des verstorbenen Direktors, Kate (Jane Birkin).

Man schaut ihnen zu bei einem zärtlichen Pas de deux, er versucht sie aus dem Gefängnis ihrer Vergangenheit, von den Dämonen schrecklicher Erinnerung zu befreien. Am Ende sagt sie ihm: Manchmal hat man sich so daran gewöhnt, mit dem Schmerz zu leben, dass es bizarr ist, wenn man ihn nicht mehr fühlt. Das mag, gemessen an Welterklärungsversuchen und Kapitalismusschelte und globaler Verzweiflung eine banale Beobachtung sein; aber wenigstens ist sie ganz und gar richtig.

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