Neue Biographie über Édith Piaf:Audienz im Morgenmantel

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Édith Piaf auf einer Fotografie aus dem Jahr 1960 (Foto: DPA)

Jens Rostecks gut recherchierte, kluge und angenehm zurückhaltende Biografie über Édith Piaf erzählt vom Leben einer schwierigen Diva, das sich nicht ausschließlich als Groschenroman lesen lässt.

Von Eva Schäfers

"Mach schnell", sagt sie übel gelaunt zu dem nervösen Charles Dumont, der ihr am Klavier eine neue Melodie vorstellen möchte. Sie hält nicht viel von dem Komponisten, hat ihn schon oft abgewiesen, und sie ist müde. Doch als sie die fanfarenhaften Töne hört, ist sie elektrisiert. Dieses Lied wird ihres werden, das weiß Édith Piaf sofort: "Non, je ne regrette rien".

Eine trotzige Hymne an das Leben, wie ihr Biograf Jens Rosteck schreibt. Es passt deswegen so gut, weil die Piaf sich in ihrem Leben, das so reich an Siegen war wie an Katastrophen und Krankheiten, nie beklagt hatte. Sie teilte kräftig aus, aber sie konnte auch einstecken.

Ein Mädchen aus der Rue Pigalle, das über Liebe singt

Sie kann so gut singen, weil sie dafür brennt. Vielleicht ist es überhaupt das Einzige, was sie gut kann. Sie hat einen Instinkt, welche Lieder zu ihr passen und welche Musiker und Impresarios ihr weiterhelfen können. Männer wie der schneidige Raymond Asso, der ihr Stil und Manieren beibringt.

"Elle fréquentait la Rue Pigalle", heißt eines ihrer Chansons, und daher kommt sie ja wirklich. Sie singt fast nur über die Liebe - und die Männer braucht sie wie die Musik. Oder braucht sie die Männer für ihre Musik?

Eigentlich ist eine fast ermüdende Gleichförmigkeit in ihrem Leben zu beobachten. Sie verliebt sich, baut ihre - immer sehr männlichen und attraktiven - Liebhaber in ihrer musikalischen Karriere auf und verjagt sie, wenn sie ihrer überdrüssig wird. Mit viel Schimpf, aber ohne Schande, da die mit ihrer Hilfe inzwischen auf eigenen Beinen stehen: Yves Montand und George Moustaki beispielsweise heben zu einer Weltkarriere ab.

Große Dramen, große Musik

Nur einem brauchte sie nicht zu helfen: Marcel Cerdan brauchte die Piaf nicht, um Karriere zu machen, denn er war in seiner eigenen Disziplin selbst berühmt: als Boxer. Wie sie kam er aus kleinen Verhältnissen, und er hat sich wie sie allein ganz nach oben gearbeitet, bis hin zum Weltmeistertitel im Jahr 1948. Für diese brennende Energie hat sie ihn geliebt und nach seinem Tod über die Maßen glorifiziert.

Er stürzte 1949 mit seinem Flugzeug über den Azoren ab, und diese Katastrophe hat sie wohl nie verwunden. Dennoch trat sie auf, noch am selben Abend, nachdem ihr die Nachricht überbracht wurde, heißt es. Und bei allem Respekt für diese Disziplin - sie hat sich immer anscheinend auch ganz bewusst ihrer privaten Katastrophen und Dramen bedient, um ihre Chansons emotional aufzuladen.

Jens Rosteck beleuchtet (mithilfe des Augenzeugenberichtes des französischen Journalisten Noli) das stickige, verdunkeltes Wohnzimmer der Piaf, in dem viele Bittsteller, unter anderem ihre Stammkomponistin oder der Direktor des Olympia-Theaters, stundenlang auf sie warten. Und irgendwann erscheint die missgestimmte Diva zur Audienz, in fleckigem Morgenmantel und ausgetretenen Pantoffeln.

Der Gewährsmann, der das so hellsichtig aufschreibt, verfällt später selber dem Charisma der Piaf, wird zu ihrem Hofberichtschreiber bei der Zeitung France Dimanche und Jahre später ihre Lebenserinnerungen dichten.

Mit kritischer Distanz beschreibt und analysiert Jens Rosteck auch die bedrückenden Aspekte dieses ambivalenten Charakters. Mit ihren Launen und sadistischen Späßen erschreckte und tyrannisierte Édith Piaf ihren Hofstaat - viele lebten auch in ihrem Haus - oder steckte alle an mit plötzlich aufflammender Fröhlichkeit. Ihre Gelage in der luxuriösen 20-Zimmer-Villa am Cap Ferrat an der Cote d'Azur sind legendär. Die zahllosen gebetenen und ungebetenen Gäste werden rund um die Uhr bewirtet.

In der Missgunst einer Diva

Wenn sie dagegen jemand aus dem Haus warf - und solche "Todesurteile", so Rosteck, waren an der Tagesordnung -, sprach sie sogar ein absolutes Kontaktverbot zu ihrem Clan aus. Dies widerfuhr ihrem devoten Privatsekretär Claude Figus, der wie ein ergebener Pudel den Zugang zu ihrem Reich bewachte. Übrigens wohl nicht sorgfältig genug, denn irgendwann bringt er einen seiner Liebhaber ins Haus, einen griechischen Friseur mit Hang zum Gesang.

Die Piaf verliebt sich in ihn und wird den verträumten, etwas linkischen jungen Mann unter dem Künstlernamen Théo Sarapo energisch fördern oder, mit Rostecks Worten, nach Strich und Faden pygmalionisieren. Mit Ende vierzig heiratet sie den zwanzig Jahre jüngeren Théo. Und Figus wird sich umbringen. Zwischen ihm und der Piaf flammten noch Jahre nach ihrem Kontaktverbot Verbitterung und Hass, dessen Feuer von der Boulevardpresse immer wieder angefacht wurde.

Und auch ihre langjährige Stammkomponistin Marguerite Monnot, in guten Zeiten von der Piaf zärtlich "La Guite" genannt, verlor ihre Gunst, nicht so plötzlich wie Figus, aber peu à peu. Dabei war sie eine so begabte wie liebenswürdige Künstlerin, die für sie 25 Jahre lang viele erfolgreiche Chansons komponiert hatte, unter anderem "Mon légionnaire" und "Hymne à l'amour".

Die Despotin vom Boulevard Lannes

Mit ihrer Sanftheit war sie ein gutes Gegengewicht zur ruppigen Piaf. Als Kind war diese auf der Straße aufgewachsen, herumgestoßen, geschlagen und immer hungrig. Vielleicht erklärt das die seelische Grausamkeit, mit der sie langjährige Freunde und Mitarbeiter hinauswirft - wobei die berufliche und die private Sphäre in ihrem Leben nicht zu trennen sind.

"Erdgeist, Heuschrecke, Nachtigall. Die Despotin vom Boulevard Lannes" hat der Autor dieses düstere Kapitel der frühen Sechzigerjahre im Leben der Piaf genannt. Schon die bildhaften Überschriften verführen zur Lektüre. Rosteck schreibt präzise und elegant und gewinnt den Leser mit seiner feinen Ironie und seinem Scharfsinn. Er urteilt, aber verurteilt nicht. Auch sein umfangreiches Literaturverzeichnis, der kritische Umgang mit den Quellen und die so aufschlussreichen wie vergnüglich zu lesenden Anmerkungen zeugen von umsichtiger Recherche.

Kritischer Blick auf ein Groschenroman-Leben

Wenn die Quellen unzuverlässig zu werden drohen - beispielsweise ähneln die von Noli verfassten "Lebenserinnerungen" der Piaf eher Groschenheftromanen, besonders was ihre Kindheit angeht - überprüft er die Texte auf ihre Schnittmenge und wählt nur die Begebenheiten, die in allen Quellen vorkommen. Einzig die Schwarz-weiß-Fotos des ansprechend gestalteten Buches enttäuschen, denn sie sind zu klein, um Wirkung entfalten zu können.

An jedes Kapitel schließt sich eine Analyse über eins, manchmal zwei ihrer Lieder. Auf das Kapitel über die despotische Heuschrecke folgen beispielsweise "Milord", das ihr George Moustaki geschrieben hat, und das Lied, mit dem sie nach ihrem Tod am meisten identifiziert werden wird: "Non, je ne regrette rien".

Es sind dies brillant formulierte Essays von hohem musikalischen Sachverstand, die bis in feinste Nuancen Melodie und Sprache nachspüren und beispielsweise zeigen, wie die Nasale des "Non, je ne regrette rien" das emotionale Pathos phonetisch unterstützen. Und manchmal erreicht er das, was sich so mancher Feuilletonist erträumt: dass es gelingt, mit den eigenen Worten ein Kunstwerk nachzuerschaffen.

© SZ vom 02.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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