Neue Bildbände von Stephen Shore:Amerikanische Oberflächen

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Im Jahr 1971 ließ der Fotograf Stephen Shore Andy Warhols Factory hinter sich und brach zu einem Roadtrip in die amerikanische Provinz auf. Die Bilder, die dabei entstanden, inspirierten Generationen von Fotografen.

Von Jörg Heiser

Man sieht diese Bilder jetzt mit anderen Augen. Leere Straßen im amerikanischen mittleren Westen, wenige Autos, kaum Passanten. Cowboystiefel unter Flanellhose im harten Licht der tiefstehenden Sonne. Ein leerer Hotel-Swimmingpool aus der Vogelperspektive. Verlassene Parkplätze im Gewerbegebiet. Diese Fotografien des New Yorker Fotografen Stephen Shore entstanden in den Siebzigerjahren. Sie zeigen ein Amerika der zarten Anzeichen, dass die Aufbrüche der Bürgerrechtsbewegung und der Hippies in den 1960er Jahren auch abseits der Metropolen angekommen sind. Sie zeigen aber auch, dass dieses Amerika bereits eine Nostalgie für die Ära vor dem Zeitenwechsel entwickelt hatte; 1968, im Jahr der weltweiten Studentenproteste, wird ausgerechnet Richard Nixon zum Präsidenten gewählt - und vier Jahre später mit einem Erdrutschsieg bestätigt.

Dass man Stadtlandschaften und Landstriche jetzt noch einmal anders sieht, ist nicht der einzige Grund, warum es lohnt, sich den beiden gerade erschienenen Fotobildbänden von Stephen Shore zu widmen. Eine zweiter Grund ist der schiere Einfluss, den dieser Meister seines Fachs auf mehrere Generationen von Fotografen ausgeübt hat. Die erweiterte Neuauflage von "American Surfaces" - eine Serie von Rollei-Schnappschüssen auf Kleinbildfilm, die Shore auf einem Roadtrip 1972 von New York nach Amarillo, Texas und zurück machte - erscheint mit einem neuen Vorwort des nigerianisch-amerikanischen Schriftstellers und Fotografen Teju Cole. Die Neuerscheinung "Transparencies" wiederum versammelt Fotos aus den Jahren 1971 bis '79, die Shore mit einer 35mm-Leica-Kamera auf Reisen durch das provinzielle Amerika machte, während er zeitgleich mit einer großformatigen Plattenkamera die berühmten Bilder seiner 1982 veröffentlichten Serie "Uncommon Places" anfertigte. Jedes Bild in letztgenannter Serie brauchte gut 20 Minuten Vorbereitung, die schwere Kamera musste auf einem Stativ montiert werden, ein aufwändiger Prozess; das Ergebnis sind hochbrillante, perspektivisch weit offene Stadt- und Landschaftsansichten, in die man beinahe meint, wie in ein Diorama-Fenster hineinsteigen zu können.

(Foto: Stephen Shore. Courtesy 303 Gallery, New York)

Ein dritter Grund, sich mit Shore zu beschäftigen: Fotografie in Gestalt von Fotobänden - und Bildern in den Sozialen Medien - ist ein gutes Medium für zu Hause, so wie Bücher, Musik, Filme. Transferiert ins neue Medium, verharren die traditionellen Kulturorte wie Theater oder Museum meist in ihren Formen der Ansprache, so als würde man im Fernsehen wie im Radio vorlesen. Die Fotografie dagegen nimmt einfach Notiz von dem, was passiert, und wir sehen derzeit beispielsweise Bilder von Anti-Lockdown-Demonstranten im amerikanischen Mittleren Westen, die sich mit aufgerissenen Mündern und roten Baseballkappen hinter Glastüren drängen, als würden sie eine Szene aus einem Zombiefilm nachstellen. Während Stephen Shore, der sich ins Ländliche Upstate New York zurückgezogen hat, mit seinem Iphone eine Waldszene aufnimmt oder das Lenkrad seines Autos und es auf Instagram stellt. Die Bilder beschönigen nichts und strahlen dennoch eine stoische Ruhe aus. Ähnlich in den Bildbänden, die man bitteschön beim lokalen Buchhändler des Vertrauens bestellen möge.

Mit sechs bekam er die erste Kamera, mit vierzehn kaufte das MoMa erste Bilder

Dafür dass Shore sich so lange Zeit gelassen hat, die "Transparencies" der 1970er zu veröffentlichen, hatte er es in seinen ersten Lebensjahrzehnten umso eiliger mit der Fotografie. Geboren 1947, bekommt er mit sechs von einem Onkel eine Kodak Junior Dunkelkammer geschenkt; mit neun die erste eigene 35mm-Kamera; mit zehn besitzt er ein Exemplar des bahnbrechenden Fotobuchs "American Photographs" von Walker Evans. Evans' streng-elegante Geometrik findet sich ebenso bei Shore wieder wie das Sujet, so als hätte sich Shore immer wieder gefragt: Was wäre die heutige Entsprechung zu Evans's Projekt eines Porträts eines ganzen Landes? 1961, mit gerade mal vierzehn, schickt Shore eine Auswahl von Fotografien an MoMA-Kurator Edward Steichen, der drei davon ankauft. Wieder vier Jahre später, mit 18, zieht Shore in Andy Warhols Factory ein und dokumentiert die Jahre mit Edie Sedgewick und den Velvet Underground in Schwarz-Weißfotos, die bis heute eines der Hauptzeugnisse aus dieser dynamischen Zeit ablegen.

1971, mit 24 Jahren, beginnt Shore sein großes Roadtrip-Projekt. Alles geschieht scheinbar ganz beiläufig, doch mit der Präzision einer Maschine - die dezidierte Kunstlosigkeit des fotografischen Gestus ist ihm zu diesem Zeitpunkt unter dem Einfluss der Konzeptkunst und den Theoretikern der postmodernen Architektur längst eigen. Ob Ed Ruschas trocken zur Kenntnis nehmenden Fotoserien über Tankstellen oder die Häuser am Sunset Strip; oder das Learning From Las Vegas, das die Gruppe um den Architekten Robert Venturi propagierte: Bei Shore wird daraus eine konsequente Form der Fotografie des amerikanischen Alltags. Die Pointe dieser dezidierten Kunstlosigkeit ist, dass sie umgekehrt besonders aufmerksam für das undezidiert Künstlerische ist, welches sich in diesem Alltag zeigt: das zufällig Skulpturale, das improvisiert Malerische, das alltäglich Performative. Ein Briefkasten, der auf einen Baumstumpf montiert ist; ein paar ausgelatschte Herrenschuhe auf gelber, ausgefranster Fußmatte, die schräg zur grün-braunen Klinkerwand auf rot gestrichenem Fußboden liegt; der zerknitterte Anzug und die halb geöffnete, mit Zeitungen vollgestopfte Aktentasche eines Vorstadtzug-Pendlers, der zudem noch einen Bildband mit dem Titel "Mother and Child in Modern Art" unter den Arm geklemmt hat. Es ist alles andere als wahllos, was Shore fotografiert, aber es ist auch nie bedeutungsschwanger. Wie er gesagt hat, versteht er seine Kleinformat-Bilder als visuelle Entsprechung zum mündlichen Gespräch - so, wie wenn sich in Smalltalk-Geplänkel spontane Beobachtungen und Pointen mischen.

Auf Instagram halten viele seine kunstlosen Alltagsbilder für zu banal

Shore hat auf Instagram über 180.000 Follower, und wie Teju Cole schreibt, unterstellt eine signifikante Minderheit dieser Follower Shore gerne einmal, dass er sie wohl auf den Arm nimmt, wenn er mal wieder ein Foto postet, das "offensichtlich weder schön noch clever ist". Cole hat recht, wenn er vermutet, dass dieses Missverständnis darauf beruht, dass die alten Bilder mit den zeittypisch bunten Kleidern und Autos und der Kodacolor-Patina der Farben unweigerlich eine Kunstaura bekommen haben, während die neuen Bilder auf Instagram noch schmerzhaft nah an der eigenen, als banal wahrgenommenen Gegenwart sind. Shore wird über dieses Missverständnis milde lächeln.

(Foto: Stephen Shore. Courtesy 303 Gallery, New York)

Und nicht aus intellektueller Blasiertheit, ganz im Gegenteil: Es ist eine Idee von Schwellenabbau, der Wertschätzung der Lebenshorizonte der ordinary people. Das zeigten schon seine ersten Ausstellungen. 1971 eine Einzelschau im Metropolitan Museum of Art, die erste, die einem lebenden Fotografen ausgerichtet wurde - Shore zeigt unter andere Porträts seiner Eltern. Ein Jahr später stellt er die Bilder der American-Surfaces-Serie in der New Yorker LIGHT Gallery aus - und verstößt radikal gegen jede Regel, mit der sich die Fotografie gerade erst mühsam als Kunstgattung hatte etablieren können durch die Anrufung von Erhabenheit, die ein Schwarz-Weiß-Barytpapier-Abzug im edlen Passepartout-Rahmen zu bieten hat. Seine Kodak-Abzüge bezog Shore hingegen aus dem gewöhnlichen Fotolabor, so wie jeder Hobbyfotograf; er rahmte diese nicht und passte sie auch nicht in Passepartouts ein, sondern klebte sie einfach direkt mit Doppelklebeband an die Wand; und er hängte sie nicht einzeln wie Ikonen, sondern im Raster. Schnappschuss-Porträts von Menschen im harten Blitzlicht; Fotos vom eigenen Essen im Restaurant. Die Welt war noch nicht bereit. Es musste erst Instagram für Stephen Shore erfunden werden.

Stephen Shore : Transparencies. Small Camera works 1971-79, Mack Books, London 2020.

Stephen Shore: American Surfaces (überarbeitete und erweiterte Fassung), Phaidon, London 2020.

© SZ vom 22.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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