Süddeutsche Zeitung

Neuausgabe:Herzenskälte in der Herrenabteilung

Hans Falladas Erfolgsroman aus der Weimarer Republik "Kleiner Mann - was nun?" ist so grell wie berührend. Die nun erschienene Urfassung zeigt, wie historisch genau Fallada seine Zeit erfasste.

Von Gustav Seibt

Hans Falladas Roman "Kleiner Mann - was nun?", erschienen im Sommer 1932, ein halbes Jahr vor Hitlers Machtergreifung, war der letzte große Bucherfolg der Weimarer Republik. Zugleich ist es das Buch, das eine der Hauptursachen für ihren Untergang, das soziale Elend in der Weltwirtschaftskrise seit 1929, so grausam lebendig werden lässt, dass die Lektüre immer noch zu einer Quälerei werden kann, allerdings zu einer ziemlich lustvollen Quälerei. Wie schrecklich das doch alles ist!

Was Johannes Pinneberg, der Verkäufer für Herrenbekleidung, und sein geliebtes Lämmchen, die, weil ein ungeplantes Kind unterwegs ist, eilends geheiratete Freundin, erdulden müssen, ist nicht nur Armut, nicht nur Demütigung (noch schlimmer als die Armut), es ist vor allem die Dauerdrohung des Unheils, die deshalb über ihrer ganzen Existenz schwebt. Das Gefühl von Ausgeliefertheit, das Fallada so plastisch schildert, erinnert bereits an die Erfahrungen der Diktatur, die bevorstand. Dieses Gefühl wurde zum Grundton aller Bücher Falladas.

Oberflächliche Schnoddrigkeit wird zum Einfallstor gnadenloser Berliner Jammergefühligkeit

Noch hat Pinneberg Arbeit, erst in der Provinz an der Küste, dann in Berlin in einem großen Kaufhaus, aber diese kümmerlich bezahlte Arbeit hat er eben nur auf Abruf, nach Maßgabe einer wirtschaftlichen Großlage, die hier die alten Schicksalsmächte der Tragödie ersetzt. Was macht das mit den kleinen Leuten? Sie werden böse, sie werden schlecht im Umgang miteinander. Alles wird vergiftet: die kleinen Erfolge, weil sie nie genügen. Die wenigen Freuden, weil die Nachbarschaft des Elends der anderen so nah ist. Der Mikrokosmos des Kaufhauses, schon fast heutig optimiert mit Verkaufsquoten und Personalberatern, wird zur menschlichen Hölle, beherrscht von Neid und Denunziationen, die unbarmherzig alle Schäbigkeit und Herzenskälte ans Licht bringt.

Fallada, das zeigt auch diese Neuausgabe, die den spektakulären Erfolg fortsetzt, der seit Erscheinen der Urfassung des Romans "Jeder stirbt für sich allein" 2012 auch international zu einer erstaunlichen Wiedergeburt führte, ist ein greller Autor. Man rechnet ihn der Neuen Sachlichkeit zu, weil er sich von den expressionistischen Sprachexperimenten seiner Epoche entfernte, weil er genau beobachtete und mündliche Rede mimetisch verwendete. Eigentlich aber war er ein später Naturalist, er braute immer noch Säfte aus dem Sirup von Émile Zola. Die Schnoddrigkeit ist oberflächlich, sie wird zum Einfallstor der Berliner Jammergefühligkeit, die alles Leiden und auch die Hoffnungen auf ein kleines bisschen Glück gnadenlos artikuliert. Großartig ist das - und gelegentlich etwas dick aufgetragen.

Die Handlung - absehbar und doch unerbittlich spannend - umfasst wenig mehr als den Absturz der jungen Kleinfamilie in die Arbeitslosigkeit, aus dem Angestelltendasein mit kleiner Wohnung und kärgstem Auskommen hinunter ins bare Elend. Ja, Berlin mit Tingeltangel und Prostitution, mit bösen Reichen und dubioser Halbwelt kommt auch in den Blick, aber es ist nicht diese Großstadtmalerei, die beim Wiederlesen am meisten entzückt. Viel bewegender ist, wie Falladas junge Helden leben lernen, und das geht vom Kochen bis zum Aufstellen eines Haushaltsplan unter den Bedingungen äußersten Geldmangels.

Hier trifft der Sozialromancier den Punkt, der seinem Buch das historische Überleben sichert, den realen humanen Boden unterhalb manchen sonst schwer erträglichen Kitschs. Gerade dort, wo die Geschichte bis ins Zahlenmaterial hinein genau ist, bleibt sie erstaunlich frisch - und spätestens hier werden etliche Leser das Fehlen eines Kommentars bedauern, der die grausame Faktizität mit der Statistik des Deutschen Reiches von 1932 abgleicht.

Die Neuedition, die Carsten Gansel aus dem im Fallada-Archiv in Carwitz / Neubrandenburg erhaltenen Originalmanuskript erstellt hat, fügt der bisher kursierenden Version ein weiteres Fünftel hinzu, der Umfang erhöht sich von knapp vierhundert auf fast fünfhundert Seiten. Das ist keine Kleinigkeit, und so ist eine der ersten Überraschungen, dass sich der Grundcharakter des einfach-wuchtigen Buches doch erstaunlich wenig ändert.

Leider verzichtet die Ausgabe auf eine präzise Aufstellung der Abweichungen, nicht einmal eine Liste im Anhang gibt es, wie sie inzwischen jedes Reclam-Heft bereitstellt. Wer nicht selber Seite für Seite vergleichen will - es lohnt sich! -, muss sich auf ein lesenswertes Nachwort und darin vorgeführte Beispiele verlassen. Kaum eine Seite blieb unberührt auf dem Weg vom Manuskript über den stark gekürzten Vorabdruck in der Vossischen Zeitung bis zur Buchausgabe im Rowohlt Verlag. Fallada schrieb, wie gewohnt, rauschhaft-konzentriert, oft mehr als sechs Druckseiten pro Tag. Hinterher war er zu Konzessionen bereit, und diese betrafen neben zahllosen stilistischen Retuschen vor allem drei Hauptgebiete.

Erstens wurden sittlich anstößige Passagen stark gekürzt, und diese Streichungen erstreckten sich nicht nur auf das Berliner Nachtleben mit der unterm Druck der Armut verbreiteten Prostitution, sondern auch auf einen Ausflug in die exzentrische Nacktkultur, der Herr Heilbutt, der hilfreiche Kollege Pinnebergs, frönt. Zweitens wurden einige ästhetische Exkurse zu Kinoerlebnissen und Lektüren - Pinneberg ist Robinson-Crusoe-Fan, die einsame Insel wird ihm zur Rettungsfantasie - eingedampft, auch diese höchst aufschlussreich. Die Hinweise auf die zeitgenössische Begeisterung für Charlie Chaplin markiert den historischen Moment besonders genau, und hier ersetzt das Nachwort auch den fehlenden Stellenkommentar.

Vor allem interessant, allerdings auch besonders kleinteilig sind die Redigate zu politischen Fragen. Präzise beschreibt der Sozialdemokrat Fallada die Spaltungen dieser Gesellschaft: Nazis betreten die Bühne, der Antisemitismus ist hässlich präsent, als allgemeine Redensart und Haltung, der Klassengegensatz von Arbeitern und Angestellten, damals ein viel diskutiertes Thema, wird bis in - erläuterungsbedürftige - organisatorische Einzelheiten ausgebreitet. Und am interessantesten: Lämmchen, die sanfte, immer stärker werdende Frau, erklärt sich mit radikaler Beiläufigkeit zur Kommunistin, ein Zug, der damals schon, unter den Hindenburg'schen Präsidialkabinetten, zu brisant war, um ihn zu exponieren.

Die Urfassung zeigt also kein ganz anderes Buch, aber sie wirkt wie ein neues Sehgerät auf ein ermüdetes Leserauge: Auf einmal ist alles viel greifbarer, detailreicher, konkreter und damit glaubwürdiger. Der schlichte poetische Kern, das junge Leben im Gegensatz zur Niedertracht der Verhältnisse, kann dabei nur gewinnen. Unheimlich aktuell sind einzelne Passagen, so eine Empfindung Lämmchens: "Wie kann man lachen, in solcher Welt mit sanierten Wirtschaftsführern, die tausend Fehler gemacht haben, und kleinen entwürdigten, zertretenen Leuten, die immer ihr Bestes taten?"

Die Wirtschaftslage ist hier das Schicksal, aber es bleibt ein unbegriffenes Schicksal

Dabei zeigt Fallada durchaus, dass der Sozialstaat schon funktionierte: Schwangerschaft und Geburt des Kindes der Pinnebergs werden anstandslos begleitet, die Krankenkasse zahlt; auch ein Arbeitslosengeld gibt es, die Details sind fast Hartz-IV-pedantisch. Und trotzdem ist das System entwürdigend, das ist sogar ein Kern des Problems: die Ungerechtigkeit in der Achtung. Leistungsgerechte Bezahlung wird, wenn es gleichzeitig sechs Millionen Arbeitslose gibt, auch dann zum Hohn, wenn sie so präzise durchgerechnet ist wie in den Quoten von Pinnebergs Kaufhaus.

Die Wucht dieses Romans, seine unmittelbare Wirkung aufs Gefühl, hängt allerdings eng mit seiner Begrenztheit zusammen. Die Wirtschaft ist hier das Schicksal, aber sie bleibt ein unbegriffenes Schicksal. Man sieht die Auswirkungen auf das Verhalten, sogar auf die Physiognomien: Eine wohlhabende Frau "sieht aus wie alle Frauen, die nichts erlebt haben, nicht schlimmer und nicht besser". Im Vergleich zu seiner sozialrealistischen Herkunft aus dem französisch-englischen Roman des 19. Jahrhunderts erscheint Falladas Kunst wie ohne Fundament. Ein Zola hätte versucht, die Weltwirtschaftskrise zu erklären, als großen kollektiven Vorgang mit gewaltigen Ursachenketten. Bei Fallada ist sie einfach da. Seine eigene, fast körperliche Reaktion darauf sind frühkindliche Rettungsfantasien, die heimelige Wohnung unterm Dach, die Insel in der Südsee, eine Höhle fern von den Menschen. Ein zarter Zug von Regression antwortet auf die Schicksalsschläge der Epoche.

Hans Fallada: Kleiner Mann - was nun? Roman. Ungekürzte Neuausgabe mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Aufbau Verlag, Berlin 2016. 557 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 14,99 Euro.

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Quelle:
SZ vom 03.08.2016
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