Neu im Kino::Sie sind ein perverser Freak, Madame

Lesezeit: 3 min

Hannah Herzsprung und Monica Bleibtreu spielen virtuos in "Vier Minuten" von Chris Kraus.

Martina Knoben

"An den Schmerzen erkennst du, ob du zu Hause bist", hieß es in "Scherbentanz", Chris Kraus" ziemlich wildem Debütfilm. Auch in dem nicht minder wuchtigen, mindestens so ambitionierten Liebes- und Knastdrama "Vier Minuten" geht es um unerlöste Geister und Spukgestalten - dagegen steht die befreiende Kraft der Liebe und der Musik.

Und dazu ein Blick von schräg unten aus himmelblauen Augen, der förmlich dazu auffordert, tätlich zu werden . . . (Foto: Foto: ddp)

Ein Virtuosenstück ist dieser Film, eine Talentprobe für den Regisseur und seine junge Hauptdarstellerin, die mit der jungen Borderlinerin Jenny eine Rolle gefunden hat, die wie geschaffen ist für eine erste starke Performance. Über Hannah Herzsprung, die dafür mit einem Bayerischen Filmpreis als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet wurde und wohl auch Chancen auf einen Deutschen Filmpreis hat, ist inzwischen schon so viel geschrieben worden, dass sich das Wort von der "Entdeckung" eigentlich verbietet. Aber wie soll man es sonst nennen, wenn sich eine 25-Jährige mit so viel Wucht und Virtuosität in ihre erste große Rolle stürzt: schreit und schlägt und (ungedoubelt!) gegen eine Fensterscheibe rennt und so dem Schmerz und dem Hass und der hilflosen Gewaltbereitschaft der als Mörderin verurteilten Jenny körperlich Ausdruck verleiht? Dazu dieser Blick von schräg unten aus himmelblauen Augen, der förmlich dazu auffordert, tätlich zu werden . . . Erst die eiserne Disziplin einer alten Dame balanciert so viel Powerplay aus.

Die 62-jährige Monica Bleibtreu spielt Jennys Widerpart, die greise Traude, und hat sich dafür in eine bucklige, faltige Schildkröte mit Dutt, Hornbrille und Strickjackenpanzer verwandelt. Diese Frau ist der Hammer: "Kein Wunder, dass Ihre Frau Sie verlassen hat", zischt sie einen Vollzugsbeamten an, der ihre beiden Klavierträger nicht hereinlassen will in die JVA. Und als der Direktor des Gefängnisses sie zurechtweist und gleichzeitig scheißliberal darauf besteht, nicht Direktor genannt zu werden, fällt ihr der erster Gefängnisleiter ein, der den Titel ebenfalls nicht mochte. Wie der genannt werden wollte? Sturmbannführer. Diese Frau kann austeilen.

Traude erkennt Jennys Ausnahmetalent und unterrichtet sie. Nicht aus Fürsorge, nur die Musik, sagt sie, interessiere sie. Und doch entbrennt zwischen der Klavierlehrerin und ihrer überaus begabten, überaus unberechenbaren Schülerin ein Liebes- und Musikduell, das beide Frauen aufs äußerste fordert - und beträchtliche emotionale Kraft entwickelt. Hier hat der Film seine spannenden, großen Momente, wenn er sich auf seine beiden Hauptdarstellerinnen konzentriert. Wenn steinerne Disziplin auf haltlose Wut prallt, sich zwei Verhärtete immer wieder kurz füreinander öffnen, um dem anderen gleich wieder weh zu tun. Wenn die Sehnsucht nach Berührung der äußersten Angst davor begegnet.

Wobei Monica Bleibtreu den schwierigeren Part (dafür die besseren Dialogsätze) hat. Ihr soll die Verschränkung der Zeitebenen gelingen - immer wieder führen Rückblenden in den Winter 1945, als die junge Traude ihre große Liebe, eine junge Kommunistin, verlor, die als "Volksschädling" von den Nazis hingerichtet wurde. So irritierend künstlich diese Rückblenden auch wirken - sie haben ihre Berechtigung, weil Traude immer noch feststeckt in diesem Jahr 1945, sich nie befreien konnte von der traumatischen Erfahrung, ihre Freundin verloren und verraten zu haben. "Sie sind ein perverser Freak, Madame, eine Lesbe, die auf Leichen steht", wirft Jenny der Alten in einem Moment großer Wut vor - und hat nicht ganz Unrecht damit. Wie eine Verdammte, ein unerlöster Geist ist Traude an den Ort ihres Verrats gebunden; eine verquere Kraft zieht sie daraus.

Wie nicht nur Traude, sondern auch Jenny durch die Musik und ihre Beziehung zueinander ein Stück Freiheit finden, das ist die Geschichte des Films - dem Kraus durch diverse Nebenfiguren und Subplots allerdings viel zu viel aufbürdet. Sven Pippig als gefährlich-schleichiger Vollzugsbeamter, Richy Müller als sein prolliger Kollege, Jasmin Tabatabai als Knast-Alphatier, Nadja Uhl als naiv-wohlmeinende Gefängnispsychologin, nicht zuletzt Vadim Glowna als Jennys von Schuld zerfressener, pervers-mächtiger Stiefvater - sie alle sind deformiert, sind Gefangene, suggeriert der Film und stürzt dabei immer wieder ab ins Klischee. Wie auch die unruhige Auflösung (Kamera: Judith Kaufmann) zwar Jennys Unberechenbarkeit entspricht, aber auch einen Kunstanspruch vermittelt, der den Film laut und angestrengt aussehen lässt. Wohl tun daher Momente, wenn der Film nicht hochdramatisch sein will. Wenn etwa Jenny und Traude einen Vorrundensieg bei "Jugend musiziert" in einem Gartenlokal feiern. "Ich sag"s jetzt mal als Erste", bemerkt Jenny, "und ich hab"s noch nicht mal zu Leuten gesagt, mit denen ich geschlafen habe: Ich mag Sie." Und während Traude noch nach Worten ringt (was Jenny sehr genau registriert), hat Jenny schon ihre mit Handschellen gefesselten Arme um sie gelegt und tanzt mit ihr. Traude presst ihre Arme an den Leib, kaum wagt ihr Körper die Berührung. Einen schöneren Ausdruck wird die Liebe der beiden nicht wieder finden.

VIER MINUTEN, D 2006 - Regie, Buch: Chris Kraus. Kamera: Judith Kaufmann. Schnitt: Uta Schmidt. Mit: Monica Bleibtreu, Hannah Herzsprung, Sven Pippig, Richy Müller, Jasmin Tabatabai, Vadim Glowna, Nadja Uhl. Piffl Med., 112 Min.

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.26, Donnerstag, den 01. Februar 2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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