Neu im Kino: "Nichts als Gespenster":30 werden und weiterleben

Liebessehnsucht, die in Affären versickert. Sich begegnen und gleich wieder davonlaufen. Martin Gypkens zeigt in "Nichts als Gespenster" von Judith Hermann souverän das Dilemma einer Generation.

Rainer Gansera

"Aber ich lebe ja. Ich lebe! Daran ist nicht zu rütteln", sagt sich der Held in Ingeborg Bachmanns Erzählung "Das dreißigste Jahr". Erschrockene Selbstbeschwörung angesichts eines Gefühls, doch nur wie ein gespenstischer Schatten durchs Leben zu huschen. In seinem raffiniert gewobenen Geflecht aus fünf Geschichten erzählt "Nichts als Gespenster" von Dreißigjährigen, für die das Auf-Reisen-Gehen zur Sehnsuchts-Metapher wird: Sehnsucht nach einer Berührung, die aus dem Dornröschenschlaf erweckt; Liebessehnsucht, die von der großen Erschütterung träumt, aber in kleinen Affären versickert. Glücksvisionen und Trauer, pochende Herzen und Tränen im Intercity-Bistro.

Brigitte Hobmeier und Jessica Schwarz im Film Nichts als Gespenster

Konfus in der Karibik: Brigitte Hobmeier und Jessica Schwarz.

(Foto: Foto: ddp)

Schon in seinem Spielfilmdebüt "Wir" (2003) demonstrierte Martin Gypkens - Jahrgang 1969, Absolvent der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg - ein sicheres Gespür für die komplexe "Short Cuts"-Erzählstruktur. Durchs Leben driftende Mittzwanziger beobachtete er damals und ließ den traurig gewordenen Hedonismus in dieser Generation erkennen. Als konsequente, souveräne Ausformulierung solchen Erzählens erscheint nun "Nichts als Gespenster": mit prächtigen Scope-Bildern, einer brillanten Darsteller-Riege und einer Vorlage - fünf Erzählungen von Judith Hermann -, in deren feine Seelen-Verästelungen sich Gypkens mühelos einschwingen kann.

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Fünf Landschaften, die kontrastreicher nicht sein könnten: die Wüste Nevadas, Jamaika, Island, Venedig, deutsche Provinz. Landschaften, in denen sich etwas zusammenbraut. In jeder Geschichte gibt es die eine Berührung oder den einen Blick, die etwas in Gang setzen für die Deutschen unterwegs: eine Erregung, eine Gefühlskonfusion, eine Leidenschaftserwartung. Daraus entfalten sich dramatische Linien, an deren Knotenpunkten von einer Geschichte zur anderen gesprungen werden kann, sodass sich in der Akkumulation von Spannungen ein Gesamtbild fügt.

Karibik, Island, Verrat

Berührungen: In der Karibik, wo eine Hurrikan-Warnung ausgegeben ist, fasst der jamaikanische Hausmeister die sommersprossige deutsche Touristin Christine (Brigitte Hobmeier) am Handgelenk und sagt ein Verwirrung stiftendes "I like you". Auf der Rialto-Brücke erschrickt Marion (Fritzi Haberlandt), die sich an ihrem 30. Geburtstag mit den Eltern in Venedig trifft, als sie spürt, wie sich eine Hand in ihre Hose schiebt. Die Gefühlsturbulenzen, die diese Berührungen auslösen, werden sich nicht zu stürmischen Leidenschaften weiten. Man reist lieber ab, bevor der Hurrikan heraufzieht.

Blicke: In Island verliebt sich Jonina (Sólveig Arnarsdóttir) in Jonas (Wotan Wilke Möhring), als sie vom Fenster aus sieht, wie ausgelassen er mit dem Kind im Schnee tollt. Die Verliebtheit bleibt Projektion. Die mächtigste Erschütterung findet in der Deutschland-Geschichte statt, wo sich Caro (Karina Plachetka) in Raoul (Stipe Erceg), den Freund ihrer engsten Freundin Ruth (Chiara Schoras), verliebt. Der Verrat an der Freundin wirft aber derart lange Schatten auf die Liebe, dass sie sich zu einer Affäre verkürzt.

Unterwegs sein: "Nichts als Gespenster" verhandelt kein Beziehungs-Klimbim, sondern porträtiert Dreißigjährige, die in einer Schleife aus Sehnsucht und Resignation gefangen sind, zwischen Hoffnung auf Erlösung durch Liebe und einer "Angst vor wirklicher Hingabe". Man hat gelernt, über "Beziehungen" und "Befindlichkeiten" zu plaudern, aber die in der Tiefe erschütternden Gefühle kann man weder aussprechen noch leben. Ein Dilemma, das Martin Gypkens über weiteste Strecken souverän sichtbar macht. Er erschafft kraftvolle, schöne, präzis gezeichnete Figuren, wie sie ein deutscher Gegenwartsfilm schon lange nicht mehr zu bieten hatte.

In Nevada, wo Felix (August Diehl) und seine Freundin Ellen (Maria Simon) auf großer Amerika-Tour unterwegs sind, beginnt der Film wie ein Roadmovie: Mächtige Landschaft, verheißungsvolle Sonnenuntergänge. Doch die beiden werden einander immer fremder, verlieren sich. Am Schluss landen sie in einem windigen, heruntergekommenen Hotel, wo es spuken soll und eine richtige Geisterjägerin ihre Fotoapparate auspackt. In ihrer Entfremdung sind sich Felix und Ellen unwirklich geworden wie Gespenster. Vergeblich suchen sie nach Gesten der Nähe. Dann stellen sie sich mit einigen Hotelgästen zum Gruppenfoto in der Abenddämmerung auf. Kurz bevor das Blitzlicht die Szene erhellt, greift Ellen nach Felix' Hand. Ein Lebenszeichen.

NICHTS ALS GESPENSTER, D 2007 - Regie, Buch: Martin Gypkens. Nach Erzählungen von Judith Hermann. Kamera: Eva Fleig. Musik: Martin Todscharow. Mit: Maria Simon, August Diehl, Jessica Schwarz, Fritzi Haberlandt, Brigitte Hobmeier, Janek Rieke, Sólveig Arnarsdóttir, Valur Freyr Einarsson, Wotan Wilke Möhring, Ina Weisse, Karin Plachetka, Chiara Schoras, Stipe Erceg, Christine Schorn. Senator, 119 Minuten.

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