The Diary of a Teenage Girl
Tagebücher sind gefährliche Wesen. Nicht immer lieb, zutraulich, zuverlässig. Manchmal, scheint es, wollen sie gar von fremden gelesen werden. Das Diary of a Teenage Girl im Film von Marielle Heller - nach dem Buch von Phoebe Gloeckner - gehört der jungen Minnie Goetze, die ist ein tolles Siebzigerjahre-San-Francisco-Kind. Sie schreibt. Sie malt. Sie ist frühreif. Gern tauchen die Comicfiguren, die sie skizziert, neben ihr auf. Der Mann, mit dem sie jede Menge Sex hat, ist der junge Lover ihrer Mutter. Die Mutter ist Kristen Wiig. Der Lover ist Alexander Skarsgard. Minnie, das ist Bel Powley, mit was für einer angenehm enervierenden Naivität. Ein Crossover. Als ich dieses Buch las, erzählt die Regisseurin Heller, dachte ich, so müssen Jungs empfinden, wenn sie den Fänger im Roggen lesen. Eine Videorezension zum Film sehen sie hier.
Unter der Haut
Mein Mann ist schwul - das klingt nach Groschenroman. Die großartige Ursina Lardi in der Rolle der sich vor allem emotional betrogen fühlenden Ehefrau Alice aber macht den Debütfilm von Claudia Lorenz sehenswert. Das Coming-out ihres Mannes zersetzt nicht nur die Familie, es gefährdet auch Alices Identität, stürzt sie in einen Gefühlswirbel aus Hoffnung, Wut, Resignation und Trauer.
Stonewall
Beginnen Revolutionen im luftleeren Raum? Eher nicht - das ist das Problem bei Roland Emmerichs Film über den Beginn der Unruhen auf der Christopher Street, die ein zentrales Datum der Schwulenrechtsbewegung sind. Er konzentriert sich dabei so auf ein Grüppchen sehr sympathischer Jungs, die jeden Kontakt zur Gesellschaft verloren haben, dass er jeden politischen Kontext ausblendet. Es ist ganz nett, ein bisschen Zeit mit diesen Figuren zu verbringen - aber es bringt nicht viel. Eine Videorezension zum Film sehen sie hier.
Domian - Interview mit dem Tod
"Mein Lebensthema ist der Tod", sagt Deutschlands berühmtester Night-Talker Jürgen Domian. So machte Birgit Schulz den Titel seines vorletzten Buches auch zum Motto ihrer Dokumentation über sein Leben und seinen Alltag, bevor er die zehrenden Nachtschichten Ende 2016 nach mehr als 20 Jahren aufgeben will. So entwaffnend offen wie im Dunkel der Nacht mit seinen Anrufern, spricht er auch tags im Urlaub in der schönen Landschaft Lapplands mit der Regisseurin über sich und die Art wie er Seelsorge mit persönlicher Forschungsarbeit verbindet.
Happy Welcome
Sommer 2015: Vier "Clowns ohne Grenzen" touren durch die Republik und treten vor Flüchtlingskindern auf. Filmemacher Walter Steffen begleitet sie. Die Dokumentation dieser intensiven Begegnungen zwischen Spaßmachern und traumatisierten Kindern ist leider zum Thesenfilm geraten. Am stärksten ist der Film da, wo er kommentarlos draufhält und sich nicht mit gutmenschlichen Interview-Tönen oder dem Zitieren der Erklärung der Menschenrechte selbst unterbricht.
HalloHallo
Disa (bezaubernd: Maria Sid) - 40, geschieden, zwei Kinder, Krankenschwester im schwedischen Bergwerkstädtchen Falun - war immer für andere da, jetzt aber wagt sie es, glücklich zu sein. Regisseurin Maria Blom erzählt die Geschichte vom Mauerblümchen, das in der Lebensmitte frisch aufblüht, als Selbstfindungskomödie, zeichnet herrliche Charaktere und erspürt im Alltäglichen das pochende Herz ihrer Heldin
Herr von Bohlen
Arndt von Bohlen, Alleinerbe des Stahlkonzerns Krupp, verzichtet freiwillig auf das Firmenvermögen; stattdessen führt der bekennende Homosexuelle mit einem Faible für Make-up, Schmuck und Schönheits-OPs ein Jetset-Leben als "reichster Frührentner Deutschlands". In einer Mischung aus Archivmaterial, Interviews und fiktionalen Szenen porträtiert der Dokumentarfilmer André Schäfer (Deutschboden) eine schillernde Persönlichkeit, ohne sie der Lächerlichkeit preiszugeben.
Die Tribute von Panem - Mockingjay, Teil 2
Zeit für den Showdown: Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence) ist in diesem würdigen Finale der Filmreihe das Maskottchen der Revolution gegen die dekadente, totalitäre Staatsmacht von Panem. Eine sehr kluge und sehr düstere Dystopie, die zeigt, was auf dem Spiel steht, wenn man erbarmungslose Gewalt mit erbarmungsloser Gewalt beantwortet. Eine Videorezension zum Film sehen sie hier.
Ich und Earl und das Mädchen
Greg und Earl haben ein wunderbares Hobby - sie drehen zuhause die ganzen Filmklassiker nach, die sie sich seit Kindheitstagen reinziehen. Das tröstet sie darüber hinweg, dass sie in der Schule nirgends dazugehören. Und dann freunden sie sich mit Rachel an, die Leukämie hat - und haben dann plötzlich viel größere Sorgen. Das Schicksal ist eben ein mieser Verräter. Alfonso Gomez-Rejons Film ist liebevoll gemacht, komisch, rührend - und sowohl teenie- als auch erwachsenentauglich. Hier sehen Sie eine Rezension im Video.
Mia Madre
Nanni Moretti, der mit Caro Diario das Spiel mit der eigenen Biographie zum Motor seines Kinos machte, steht quasi neben sich in diesem Film. Es geht um den Dreh eines großen Films - Thema: Arbeitskampf -, um einen Star, der von Kubrick schwärmt - John Turturro -, das Sterben der Mutter und wie ein Geschwisterpaar damit fertig zu werden versucht und das Kino dabei sich quer zum Leben stellt. Nanni Moretti ist der Bruder und Margherita Buy die Schwester, und sie ist die Regisseurin des Films im Film.
Sture Böcke
Ein abgelegenes Tal in Nordisland: Seit 40 Jahren haben die Brüder und Schafzüchter Gummi (Sigurdur Sigurjónsson) und Kiddi, die hier Tür an Tür leben, kein Wort gewechselt. Bis eine Tierkrankheit ihre Existenz ins Schwanken bringt. Grímur Hakonarson erzählt die ursprüngliche Geschichte von Männern und Schafen mit leisem Humor und Feingefühl für das karge Innenleben seiner Figuren. Und Kameramann Sturla Brandth Grovlen ("Victoria") bannt das Leben in rauer Landschaft in starke, wunderbar unsentimentale Bilder.
Umrika
In den 1970er Jahren verlässt ein Inder seine ländliche Heimat, um nach USA auszuwandern. Zurück kommen Briefe über die amerikanische Lebensart, die das ganze Dorf unterhalten. Als eine Dekade später sein Bruder folgen will und in Mumbai nach einem Schlepper sucht, fliegen etliche Familiengeheimnisseauf. Regisseur Prashant Nair flicht Nostalgie und Utopie zu einem luftigen Coming-of-Age-Thriller, von Bollywood weit entfernt.
Familienbande
Es ist alles andere als Liebe auf den ersten Blick, zwischen der elfjährigen Stacey und ihrem angegrauten Onkel Will (Aidan Gillen), der auf Probe aus dem Gefängnis entlassen wird, um seiner frisch verwaisten Nichte ein Heim zu geben. Um so vergnüglicher ist es, in Mark Noonans Regiedebüt dabei zuzusehen, wie ihre Panzer im provisorischen Familienleben im Trailerpark langsam Risse bekommen, wie sich zwischen den Zeilen schnoddrig ruppiger Wortgefechte in der kargen Schönheit der irischen Landschaft eine Sympathie entwickelt, die allemal tiefer geht als ein forciertes Happy End.
Riverbanks
Griechenland. Eine Schleuserin und ein mienenräumender Soldat wollen in ein besseres Leben abhauen; ein Drogenboss verhindert es. Gewidmet ist das alles den Flüchtlingen, die man in diesem Haufen bewegungsloser Postkartenbilder kaum sieht. Ein Alibi für die Filmförderung? Jemand hätte Panos Karkanevatos erzählen sollen, dass sich Migranten bewegen und "Kino" von griechisch "Kinesis": "Bewegung" kommt.