Neu im Kino: "Into the Wild":Lässig in Überlebensfragen

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Über einen 24-Jährigen, der in der Wildnis verhungerte: Sean Penn folgt in seinem grandiosen neuen Film "Into the Wild" dem Wunsch nach Abstand von der Zivilisation.

Tobias Kniebe

Das Bild wirkt wie ein Irrtum, eine Fata Morgana. Es kann nicht real sein an diesem Ort: Nach vier Tagen Tundra und zähen Zwergfichten, nach Bibertümpeln und Erlengebüsch, nach dem Waten im eiskalten Fluss und dem Blick auf den gleißenden, unerreichbaren Mount McKinley. Die letzte Straße, das letzte Zeichen menschlichen Lebens liegt mehrere Tagesmärsche zurück. Voraus aber wartet das Unbekannte, die endlose Einsamkeit Alaskas. Und das große Ziel, eins zu werden mit der Natur, in der Wildnis verlorenzugehen. Doch plötzlich steht da, auf einer Anhöhe über dem Fluss, inmitten des wuchernden Feuerkrauts: der Bus.

Die Rätsel der Eixistenz

Ein Streamline-Modell aus den Vierzigerjahren. Weiß und grün gestrichen, verrostet und verwittert, die Scheiben zerplatzt. Fairbanks City Transit System, kann man noch darauf lesen, Fahrzeug 142. Als habe es einmal eine Zeit gegeben, wo hier Menschen an einer Haltestelle gewartet haben. Als sei die Zivilisation in Wahrheit schon einmal viel weiter gekommen, bevor die Natur, in einem furiosen Gegenschlag, sie wieder zurückgeworfen hat. Ein abgebrochenes Straßenbauprojekt aus der Vergangenheit, dessen Spuren sonst restlos getilgt sind - das wäre die technische Erklärung. Doch "Into the Wild", Sean Penns großartiger und bewegender neuer Film, braucht solche Erklärungen nicht. Er nimmt die Rätsel der Existenz als gegeben hin.

Am Rand des Denali-Nationalparks in Alaska, auf dem sogenannten Stampede Trail, kann man den Bus bis heute finden. Hier entdeckte ihn auch der amerikanische Wahrheitssucher Christopher McCandless, 24 Jahre alt, im April des Jahres 1992 - und beschloss zu bleiben. Hier begann er seinen Versuch, mit einem Sack Reis und einem halbautomatischen Remington-Gewehr allein in der Wildnis zu überleben. Vier Monate später, am 18. August, war er verhungert.

Der Autor Jon Krakauer hat die letzten zwei Jahre dieses Lebens rekonstruiert und beschrieben: Als Flucht vor einer problemlos gesicherten Zukunft, vor dem Geld einer durchschnittlich amerikanischen, durchschnittlich verlogenen Familie; als Aufgabe aller Besitztümer und Beziehungen - bis hin zu dem zunehmend rigorosen Plan, dem "Gift der Zivilisation" zu entfliehen und die "spirituelle Revolution" zu vollenden.

Die amerikanische Sehnsucht nach der letzten Grenze, Naturphantasien von Rousseau bis Thoreau, Ausstiegswünsche und Hippie-Radikalismus - das alles steckt in dieser Erzählung. Chris McCandless ist damit zu einem seltsamen Helden, seine Lebensgeschichte zum Bestseller geworden. Und nichts wäre leichter gewesen, als daraus auch im Kino eine simple und folgerichtige Reise in den Tod zu machen, die sich ganz auf die Reinheit ihres Helden und die Macht ihrer Landschaftsbilder verlässt. Aber so einfach ist es nicht.

Es gibt keine Reinheit in diesem Film, seine Zeichen sind vielfach gebrochen, und schnell begreift man: Auch der Regisseur und Drehbuchautor Sean Penn, selbst ein ewiger Reisender und Getriebener, hat sich hier auf eine existenzielle Suche begeben. Aber anders als sein Held, dem nur die beneidenswerte Arroganz der Jugend eine falsche Gewissheit gibt, scheint er lange nicht einmal das Ziel zu kennen. Außenposten der Menschheit

Schon dieser "magische Bus" in der Wildnis ist ein symbolisch verwirrendes Bild. Wanderer und Jäger haben ihn bereits als Rastplatz genutzt. Er ist mit Matratze und Feuerstelle ausgestattet, als Außenposten der Menschheit hergerichtet.

Wie das Gewehr, der Rucksack, die Anleitung zum Ausweiden von Wildtieren und das Bestimmungsbuch für essbare Pflanzen, das Chris bei sich trägt, erzählt er gerade nicht von einer tiefen Verbindung mit der Natur, sondern von der Technik ihrer Domestizierung. Der Mensch, der sich heute allein in die Wildnis wagt, könnte darin ebenso erfolgreich überleben wie seine Urahnen - er müsste nur das Handbuch ihres Wissen verstehen.

Das zeigt zum Beispiel die Szene, in der Chris (mit Haut und Haaren verkörpert von Emile Hirsch) einen Elch geschossen hat. Hektisch rennt er zum Lager zurück, um seine Notizen über das Zerlegen zu holen - und scheitert trotzdem. Ein andermal liest er sein Pflanzenbuch nicht genau genug und isst aus Versehen eine hochgiftige Wurzel. So gesehen erzählt dann auch sein Tod keineswegs vom großen Loslassen, sondern eher von einer zu großen Lässigkeit in Überlebensfragen. Chris' Unwillen, nach Regeln zu funktionieren, macht ihn erst zu einem freiwilligen Aussteiger aus der Gesellschaft - und dann zu einem unfreiwilligen Märtyrer in der Natur.

Welche Rolle der Natur selbst in diesem Spiel zufällt, lässt sich lange nicht mit Sicherheit sagen. Sean Penn sucht die üblichen Bilder der Erhabenheit, er setzt Helikopterflüge und dramatisches Gegenlicht ein, er lässt Wildpferde rennen und einen Grizzlybären zum Beschnuppern vorbeikommen.

Wie Werner Herzog auf Dschungelfahrt

Damit feiert er die große Tradition der amerikanischen Landschaftsfotografie, von Ansel Adams und Edward Weston, die europäische Romantik mit technischer Sachlichkeit verbindet - und trotzdem nichts anderes sucht als Momente der Andacht in der Natur. Doch auch diese Ästhetik macht sich der Film nicht vollständig zu eigen. Einmal zerren Wölfe an einem Kadaver, da schreibt Chris in sein Tagebuch von der Unbarmherzigkeit der Wildnis und klingt ein wenig wie Werner Herzog auf Dschungelfahrt. Dann wiederum laufen handliche Kleintiere vor die Büchse, werden mühelos erlegt und gebraten. Der Abenteurer liest Jack London und Tolstoi, ritzt mit dem Taschenmesser Sinnsprüche ins Holz und fühlt sich im Schoß der Schöpfung geborgen.

Erst im Finale wird plötzlich klar, dass man einer Täuschung aufgesessen ist. Die Natur ist gar nicht das Thema des Films, sie ist hier weder bedroht noch bedrohlich, und in dem Kampf, der verhandelt wird, bleibt sie im Grunde neutral. Nein, es geht um die Liebe.

Die wenigen Menschen, die Chris auf seiner Reise trifft, vom jungen Hippiemädchen bis zum Greis, der seinem verlorenen Sohn nachtrauert, bieten ihm Liebe an. Ganz schlicht und ergreifend. Dieser Suchende, der kein Opfer ist, bringt die Wahrheit im Leben der Anderen zum Vorschein - und es ist keine hässliche Wahrheit. Dennoch muss er weiter. Nicht um zu fliehen, sondern um ans Ende seiner eigenen stillen Stärke zu reisen - an den Punkt, wo er sich nicht mehr selbst genügt, wo er andere Menschen brauchen wird.

Und Sean Penn, der vielleicht denselben Weg geht, nur schon ein paar Jahre länger, hat eine Botschaft für diesen jungen Mann: Irgendwann kommt jeder dort an - nur für die Rückkehr kann es dann zu spät sein.

INTO THE WILD, USA 2007 - Regie, Buch: Sean Penn. Nach dem Buch von Jon Krakauer. Kamera: Eric Gautier. Schnitt: Jay Cassidy. Musik: Michael Brook. Mit Emile Hirsch, Marcia Gay Harden, William Hurt, Catherine Keener, Jena Malone. Tobis, 140 Minuten.

© SZ vom 30.1.2008/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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