Neu im Kino: "24 Wochen":Kein Satz klingt nach Drehbuch, kein Moment wirkt gespielt

Lesezeit: 3 Min.

Niemand kann ihr die Entscheidung abnehmen: Julia Jentsch in "24 Wochen". (Foto: N/A)

Darf man im siebten Monat der Schwangerschaft noch abtreiben? Das deutsche Filmdrama "24 Wochen" mit Julia Jentsch erzählt von einem Tabuthema.

Filmkritik von Anke Sterneborg

Astrid und Markus sind ein glückliches Paar. Sie ist eine erfolgreiche Kabarettistin, er ihr Manager. Sie haben bereits eine kleine Tochter, Nele, und ein zweites Kind ist unterwegs. Doch dann wird die Sicherheit und Harmonie dieses Lebens durch eine erschütternde Diagnose torpediert: Trisomie 21. Das Kind würde unter dem Downsyndrom leiden. Sollen die Eltern abtreiben lassen?

Es folgt eine Zeit der Unsicherheit, des Nachdenkens, des Abwägens zu Beginn des Dramas "24 Wochen". Dazu gehören auch ganz banale Fragen, zum Beispiel wie man Kinder mit Downsyndrom überhaupt nennt. "Downies?", fragt er. "Das geht", antwortet sie, "nur Mongo ist verboten". Worauf er kontert: "Ich glaube, Eltern dürfen alles sagen." Ein nicht ganz ernst gemeintes Gespräch in einer ernsten Situation. Die Szene verweist bereits auf die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Behinderten.

Bjarne Mädel über "24 Wochen"
:"Ich wollte genauso unvorbereitet in die Situation gehen, wie man es als echtes Elternpaar ist"

Ein Paar muss entscheiden, ob es ein schwer behindertes Baby bekommt oder abtreibt: Der Film "24 Wochen" ist mutig. Hauptdarsteller Bjarne Mädel erklärt, warum.

Interview von Paul Katzenberger

Die Regisseurin und Autorin Anne Zohra Berrached hat ein Faible für Figuren, die in einen unlösbaren Konflikt mit schwierigem Schicksal geraten. Schon in ihrem ersten Film "Zwei Mütter" - über zwei lesbische Frauen, die gegen Biologie und Bürokratie um ein gemeinsames Kind kämpfen -, ging es um den Grenzbereich zwischen gesellschaftlicher Toleranz und medizinischen Möglichkeiten. Ihr zweiter Spielfilm "24 Wochen" lief im Februar im Wettbewerb der Berlinale, wo er unverständlicherweise keinen einzigen Preis bekam. In Deutschland werden 90 Prozent aller Föten, bei denen Trisomie 21 festgestellt wird, abgetrieben, las die Filmemacherin in einem Zeitungsartikel und wollte dieser Statistik filmisch auf den Grund gehen. Wobei es ihr ausdrücklich nicht um moralische Wertungen geht, sondern um das menschliche Dilemma, das so eine Diagnose auslöst. Das Paar, die Familie, die Freunde, die Ärzte ringen mit dem Für und Wider von Gefühl und Verantwortung.

Kaum ein betroffenes Paar wollte mit der Regisseurin über das Tabuthema Abtreibung sprechen

Nur zehn Prozent der werdenden Eltern entscheiden sich für ein Leben mit Kindern, bei denen diese Krankheit diagnostiziert wurde. Doch kaum jemand redet darüber, was es bedeutet, eine Schwangerschaft sogar noch im siebten Monat abzubrechen. Also zu einem Zeitpunkt, an dem die Chance groß ist, dass das Baby lebend zur Welt kommt, weshalb dessen Herz vor dem Eingriff durch eine Kaliumchlorid-Spritze zum Stillstand gebracht wird. Dass sich fast niemand zu diesem Schritt bekennen will, bekam die Regisseurin auch bei ihren Recherchen zu spüren. Statt so ein Szenario frei zu imaginieren, wollte sie es aus realen Erfahrungen destillieren und ließ nicht locker, bis sie ein Paar fand, das bereit war, bei der Entstehung des Drehbuches mitzuwirken.

Berührungsängste gibt es offensichtlich auch bei deutschen Schauspielerinnen. Es gab eine Reihe von Absagen, bevor sich Julia Jentsch auf diese emotionale Tour de Force einließ, so rückhaltlos mutig und ungeschützt, dass sich die enormen Schwankungen ihrer Gefühle permanent in ihrem Gesicht abzeichnen.

Die schweigende Mehrheit derer, die in ihrem Umfeld lieber nicht mit Behinderten konfrontiert sein wollen, bekommen auch Astrid und Markus zu spüren. Als sie ihre Entscheidung, das Kind zu behalten, freudig verkünden, schlägt ihnen mitten in der sommerlichen Atmosphäre eines Gartenfestes eisige Stille entgegen. Die Oma verleiht ihren Ressentiments noch relativ dezent Ausdruck. Deutlicher wird die polnische Babysitterin, die ihre Dienste aufkündigt, weil sie sich vor Menschen mit Downsyndrom ekelt, was wiederum die kleine Nele dazu ermutigt, auch ihre Abwehr trotzig herauszuschleudern.

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Immer wieder zielt der Film auf die Widersprüche zwischen instinktivem Gefühl und gesellschaftlicher Moral. Für Astrid und Markus erhöht sich der Druck, als bei einer weiteren Untersuchung herauskommt, dass das Ungeborene einen lebensbedrohlichen Herzfehler hat, der bereits kurz nach der Geburt schwere Operationen nötig macht und womöglich nicht ganz heilbar ist. Noch einmal verschieben sich die unsichtbaren Grenzen zwischen Egoismus und Empathie. "Wir wollen das Kind doch, oder nicht?", fragt Markus, den Bjarne Mädel zwischen Mut und Zweifel, Mitgefühl und Wut fein austariert.

Dass hier kein Satz nach Drehbuch klingt und kein Moment gespielt wirkt, hat sehr viel mit der dokumentarischen Herangehensweise von Anne Zohra Berrached zu tun. Zusammen mit realen Ärzten, Krankenschwestern, Psychologen und Hebammen hat sie in Vorgesprächen reale Situationen erschaffen, in die sie ihre fiktiven Figuren implantiert. In allen Einzelheiten mit der harten Realität eines späten Schwangerschaftsabbruchs konfrontiert zu werden, ist schwer erträglich. Doch mit Voyeurismus hat das nichts zu tun. Stattdessen schleudern diese Szenen die Fragen des Films auf seine Zuschauer zurück. Den Schlüsselsatz spricht die Hebamme aus, als Astrid sie kurz vor dem Eingriff um Rat bittet: "So eine Entscheidung kann man nur treffen, wenn man es muss," sagt sie. "Die kann einem niemand abnehmen. Und niemand hat das Recht, sie zu verurteilen."

24 Wochen , Deutschland 2016 - Regie: Anne Zohra Berrached. Buch: Carl Gerber und Anne Zohra Berrached. Kamera: Friede Clausz. Schnitt: Denys Darahan. Mit Julia Jentsch, Bjarne Mädel, Johanna Gastdorf, Emilia Pieske. Verleih: Neue Visionen, 102 Minuten.

© SZ vom 23.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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