Süddeutsche Zeitung

Neu auf CD:Klassikkolumne

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Der Tonschöpfer Gabriel Fauré präsentiert Orchesterlieder und Suiten. Und Reclam feiert den Allroundmusiker Leonard Bernstein.

Von Wolfgang Schreiber

"Variatio delectat" glaubt eisern der Lateiner und verteidigt seinen Hang zu kreativen Gegensätzen und Differenzen. Zu hören in den kiloschweren CD-Boxen mit all dem bunten Schaffen des Allroundmusikers Leonard Bernstein. Der Dirigent und Komponist wäre in gut zwei Wochen ein Hundertjähriger, starb aber 1990. Das Jubiläum ist natürlich Sache der Mammutprojekte "Complete Recordings" (DG, 121 CDs) oder "The Remastered Edition" (Sony, 100 CDs). Aber Reclams gelbe Universal Bibliothekare wollte irgendwann auch mal "Ikonen populärer Musik" dienen und hauen darum auf nur einer einzigen Silberscheibe das Bernstein-Gesamtwerk in Disk-Bruchstücke. Mit furioser Intensität dirigierte der Maestro sein New York Philharmonic, Mozarts Figaro-Ouvertüre und Schuberts Fünfte, Kopfsatz, er spielte am Klavier die Rhapsody in Blue, schüttelte Prokofjew, Copland, Tschaikowsky und Bizet, Grieg, Chabrier & Co. locker aus dem Ärmel. Dem Hörer entgeht die Complete Music, aber er hat viel Zeit gewonnen. (Reclam, Sony)

Kein Potpourri, nur ein einziger Komponist, kein besonders populärer - der erzromantische Tonschöpfer aus Frankreich, Gabriel Fauré. Er präsentiert sich mit "geheimen", zumindest geheimnisvollen Orchesterliedern und Suiten. Wer kennt schon Faurés geschmeidige Frauenchorklänge zu Dumas' Tragödie "Caligula" und das melancholische Vorspiel zum wagnernahen Poème lyrique "Penelope"? Oder die tolle Shakespeare-Bühnenmusik "Shylock" für Tenor (Benjamin Bruns) und Orchester? Ein Geniestreich Faurés tragikumwitterte Schauspielmusik zu Maeterlincks "Pelléas et Mélisande" mit der scheuen Stimme Olga Peretyatkos. Ivor Bolton führt das Sinfonieorchester Basel mit Fingerspitzengefühl durch suggestive Klänge und Harmonien. (Sony)

Der aus Argentinien stammende, in München lebende Hugo Schuler spielt die Goldberg-Variationen wie ein wissenschaftlicher Exeget mit der durchdringenden Eigenart seines bedachtsamen, analytisch klaren, zuweilen knorrigen Schwarz-Weiß-Klavierstils - jeder "eleganten" Virtuosität abhold. Die dichte Gedanken- und Vielstimmenkunst Bachs wird in faszinierend "sprechender" Diktion für den Hörer ausgebreitet. Auf einer zweiten Scheibe hat Schuler eine frühbarocke Froberger-Toccata mit drei großen Bach-Präludien/Fugen in Moll-Tonarten und dazu mit gleichnamigen Werken des quasi vergessenen, doch bedeutenden deutschen Expressionisten Heinrich Kaminski verknüpft. Ferner mit Stücken des Kaminski-Schülers Reinhard Schwarz-Schilling, darunter die originelle, klassisch-moderne Klaviersonate von 1968. Schuler hat den profunden Booklet-Text selbst verfasst - ein Anti-Gould für mutige Entdecker. (Aldilà Records)

Eine Überraschung, dass der Sohn eines großen Klavierkünstlers die Öffentlichkeit exakt mit dem Chopin-Zyklus des Vaters zu überzeugen sucht. Und der 1978 geborene Daniele Pollini legt die zwölf Etüden op. 10 überdies bei jenem Label vor, das vor Jahrzehnten mit Vater Maurizio den ersten Chopin riskierte. Sohn Daniele, hohe Begabung, nimmt die Etüden technisch brillant, mit drängenden Tempi, zuweilen Klangzerrungen und Rubato-Nuancen. Und spielt, wie der Vater, Karlheinz Stockhausen: das experimentelle neunte Klavierstück, dem er sogar Melodisches abzwingt. Mit Alexander Skrjabin entfernt sich Daniele Pollini allerdings vom Vater: Für das mystizistische Spätwerk, die zehnte Sonate, die Préludes op. 74 und Vers la flamme, hat der junge Pollini die Farbkombinatorik, das Trillerkettenpotenzial und den utopischen Geist, um Skrjabins ekstatische Kunst aufleuchten zu lassen. (DG)

Das fantastisch Abgründige tut sich im Dreischritt auf, den der ungarische Pianist Dénes Várjon sich und seinen Hörern zumutet, tief vergraben in die Musik, jenseits jeder Art von nur perfekter Selbstdarstellung. Várjon meistert die übervirtuose Fantastik von Maurice Ravels höllischem "Gaspard de la nuit" und hat sich Béla Bartóks fünfsätziger Suite "Im Freien" von 1926 verschrieben. Dort zeigt er mit intellektueller und pianistischer Hellsicht, wie "Mit Trommeln und Pfeifen" hantiert wird, gespenstische "Klänge der Nacht" und die Töne einer "Hetzjagd" gehörig dämonisiert erscheinen. Und der Schüler György Kurtágs weiß sehr genau, wie des "Traumes Wirren" in Schumanns Fantasiestücken op. 12 tönen sollen. (ECM)

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Quelle:
SZ vom 07.08.2018
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