Debattenkultur im Netz:Autopilot für Idioten

Die viel gerühmten Online-Pranger leisten keine Aufklärung und schon gar keine Machtverteilung. Sie vergiften nur - und betäuben.

Von Bernd Graff

Von Jaron Lanier, dem überraschendsten Technologiedenker unserer Zeit, erscheint in diesen Tagen eine Essay-Sammlung: "Wenn Träume erwachsen werden" (Hoffmann und Campe, Hamburg, 448 Seiten, 25 Euro). Das Buch soll dokumentieren, "wie es zu einem Meinungsumschwung kam, und zwar bei mir". Enttäuscht hat sich Lanier von alten Ideen verabschiedet. Er moniert etwa, wie westliche Gesellschaften Teile ihres öffentlichen Diskurses ins Netz verlegt haben und nun dort ein Dauersendungsbewusstsein verspüren - ganz im Sinne der uralten Brecht-Formel fürs Radio, "dass das Publikum nicht nur belehrt wird, sondern auch belehren muss". Doch Lanier stellt fest: "Der digitale Diskurs bewegt sich fast immer in einem bestimmten Rahmen, der mir jedoch langweilig und hoffnungslos erscheint. Der Grund dafür ist (. . .) in einer neuen Form der allgemeinen Konformität zu suchen."

Wie bitte? Da nehmen die Menschen endlich teil am öffentlichen Diskurs, ergreifen ihr Wort - und dann erklärt ein Supervisionär schnöde seine Langeweile und fordert "den Neustart"? Aber er hat recht. Dazu muss man sich einmal den "Rahmen" anschauen und die Spannkräfte begreifen, unter die sich dieser Digitaldiskurs freiwillig begeben hat.

Ein aktuelles und zugleich frösteln machendes Beispiel ist das Blog "Münkler-Watch", das dem öffentlichen Wirken des Politik-Professors an der Berliner Humboldt-Universität Herfried Münkler gewidmet ist (SZ vom 13. Mai). Münkler ist ein berühmter Mann, er vertritt mitunter kantige Thesen. Diese Positionen müssen nicht jedem gefallen, tun sie auch nicht. Sie zu widerlegen, mit Münkler zu debattieren, Gegenargumente zu liefern - das wäre Ausdruck des (wissenschaftlichen) Diskurses in Bestform.

Will man Thesen zerlegen? Nein, Menschen

Der aber findet in dem Blog nicht statt. Denn Münkler-Watch bedient nicht den Diskurs, sondern das Totschlagargument. Die anonymen Blog-Betreiber zerlegen nicht Münklers Thesen, sondern ihn als Vertreter mutmaßlicher Anschauungen: Sexistisch sei er, militaristisch und nationalistisch, "seine eurozentristische Überheblichkeit stehe für eine Form von Rassismus", so fasst der Spiegel die Kritik dieses Blogs zusammen - und geht ihm anschließend gnadenlos auf den Leim.

Denn "die paar Studenten", die das Blog anonym betreiben, entscheiden nicht "mit ihrem Internetzugang, was Öffentlichkeit ist", wie der Spiegel dann behauptet, sondern sie wollen Öffentlichkeit mobilisieren, weil sie ihren Internetzugang so und nicht anders benutzen. Sie machen Stimmung - und bedienen sie gleichzeitig.

Dazu wählen sie einen Aggregatszustand empörter Zurückweisung, die mit jeder Behauptung um die Zustimmung von Erregungsunterstützern buhlt. Die SZ, die Münklers inkriminierte Vorlesung besucht hat, schrieb in der letzten Woche: "Die Blogger identifizieren Münklers Positionen mit denen der von ihm behandelten Autoren, überhören Ironie, verkürzen Gedankenexperimente." Einer der Professoren-Watcher meint denn auch: "Münkler ist nicht mal besonders schlimm, sondern Abbild der Gesellschaft, in der Sexismus und Rassismus Alltag sind und nicht hinterfragt werden", sagte er der Berliner Zeitung. Klar, Alltagsrassismus ist schlimm. Doch was hat das jetzt mit Herrn Münkler zu tun? Das wüsste man doch gerne.

Man könnte die ganze argumentative Dürre nun achselzuckend ignorieren, würden nicht zahlreiche (alte) Medien einem bis zum Überdruss wiederholten Irrtum bei der Bewertung von (neuen) Medien aufsitzen: der Verwechslung der Artikulation und rhetorischen Pose angeblich kujonierter Opfer - der Spiegel nennt sie "Bachelor-Kaninchen" - mit "Machtverschiebung" und "neuen Formen der Öffentlichkeit". Öffentlich ist das, ja. Mehr aber nicht.

Rasseln in Betroffenheitsketten

Denn die Herrschaften am Online-Pranger von Münkler-Watch behaupten sich ja gerade nicht als neue Macht oder Gegenöffentlichkeit. Sie füllen ein Webformular aus, in der inzwischen begründeten Hoffnung, dass die Fallhöhe von Anschuldigung und beschuldigter Person genug Mit-Entrüstete und dann (alte) Medien anzieht, um daraus einen "Fall" machen.

Tatsächlich erlebt man diesen Versuch, eine Öffentlichkeit auf die eigene kleine Erregungsbaustelle zu locken, als das Konformitätsschema des digitalen Diskursrahmens. Man kann es das Rasseln in Betroffenheitsketten nennen, überall vernimmt man Beifall heischende Schreie von Opfern, die irgendeinen Skandal im Netz endlich öffentlich machen wollen. Die überreizte Aufmerksamkeit des Publikums weiß schon gar nicht mehr, wohin sie sich zuerst wenden soll.

Denn nicht nur Münkler-Watch funktioniert in diesem Modus, auch fast alle "#Aufschreie" kommen so daher, die spontan ausgerufenen "Gates" bedienen die Empörung ebenso, die Hotel-, Ärzte- und Lehrerbewertungen sowieso, die Kommentarspalten von Online-Medien sind voll von Skandalparanoia ("Lügenpresse"), viele, viele Kundenrezensionen und Bewertungsportalen führen so Beschwerde. Man kann keinen USB-Stick mehr kaufen, ohne auf Abgründe bodenloser Enttäuschung zu stoßen.

Doch während bei Produkten und Dienstleistungen ein klare Sehnsucht nach Gerechtigkeit erkennbar ist, bleibt der Diskurs dort, wo er politisch öffentlich werden will, bei vielen Kommentatoren auf der Stufe einer immer gleichen Entrüstung stecken. Es droht stets die Heimlichkeit, die Vertuschung, die Dreistigkeit, die schamlose Unkorrektheit irgendeiner Macht unter den Tisch zu fallen - wenn das Opfer nicht an die Öffentlichkeit tritt, den Missstand ans Licht bringt und endlich Verbündete findet.

Wozu noch miteinander reden?

Nun ist es ja nicht so, dass es auf der Welt keine Skandale und keine Opfer gäbe, keinen Machtmissbrauch und keine sexuelle Diskriminierung. Doch gehen die bedeutsamen, berechtigten #Aufschreie im Sirren der immer übertourig laufenden Erregungsmaschinerie unter. Im Netz ist immer Erregung, das sollte doch inzwischen selbst den alten Medien klar sein. Und für diese Erregung benötigt man nicht einmal mehr den Mumm, den Rasen zu betreten. Doch die Skandale, die im Gestus der Bob Dylan'schen "Wache" ("The whole wide world is watching") aufgedeckt werden, bestehen meist darin, dass irgendjemand mit dem größtmöglichsten Verstärker "Skandal" ruft. Die Verstärker werden leider oft von (uns) alten Medien gestellt.

Herfried Münkler identifiziert die Partisanenattacken, denen er ausgesetzt ist, zu Recht als Strategien "asymmetrischer Kriegsführung". Wollen wir so etwas wirklich für Diskurs und Beitrag zur Debatte einer Zivilgesellschaft halten? Haben wir es nicht vielmehr mit der Unfähigkeit zu tun, abweichende Meinung auch nur auszuhalten? Ähnlich wie bei Online-Spießern, die sich auf Twitter über den ARD-Tatort ärgern, ihn aber brav jeden Sonntag um 20.15 Uhr einschalten. Ist das die epochale Machtverschiebung, die die Welt verändern soll?

Nein, "Öffentlichkeit" entsteht so nicht. Diskurs nicht. Aufklärung nicht. Wohl aber Argwohn, Misstrauen, schlechte Laune, Diskussionsverweigerung: Wozu noch miteinander reden, wenn man sich im Kollektiv von Mit-Entrüsteten auf der Seite der Guten fühlen kann? Alle, die den ebenso flüchtigen, oft ungerechten, ja denunziatorischen Internet-Erregungen gerade so gerne hinterherschreiben, sollten dabei Jaron Laniers Diktum beherzigen: "Ein Kollektiv auf Autopilot kann ein grausamer Idiot sein."

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