Süddeutsche Zeitung

Netzkolumne:Digitaler Kolonialismus

Ist eine schlechte virtuelle Realität immer noch besser als die Wirklichkeit? Warum Facebook & Co. mit diesem Ansatz Erfolg haben könnten.

Von Michael Moorstedt

Wenn es nach Mark Zuckerberg geht, werden wir bald alle Comicfiguren sein. In dieser Ästhetik - Knopfaugen und knuffige Nase - tritt man als Nutzer nämlich in Facebooks "Horizon Workrooms"-App auf, einer Virtual-Reality-Simulation, mit der sich die ohnehin schon digitale Arbeitswelt und ihre Meetings intuitiver anfühlen sollen. Man ist körperlos in einem künstlichen Büro, sieht nur seine Hände - und eben die Comic-Kollegen. Das soll für mehr Präsenz sorgen als eine banale Zoom-Konferenz. Und ein weiterer Schritt hin zum Metaverse, einem dreidimensionalen persistenten Internet.

Nachdem unabhängige Tester ein paar Stunden in der digitalen Simulation verbracht haben, reichen erste Stimmen von einem gerade noch höflich formulierten "nicht gerade ansprechend" bis hin zu der Einschätzung, dass die Technologie "das schlechteste eines echten Büros in die virtuelle Realität bringt". Nun lässt sich freilich argumentieren, dass auch die glaubhafte Simulation von negativen Eigenschaften des Arbeitsalltags ein Erfolg ist. Trotzdem ist die App reichlich unbequem, die Nutzer klagen über Übelkeit und Entfremdung, außerdem wird die dazu nötige Virtual-Reality-Brille unangenehm warm am Kopf.

"Die Realität ist für die meisten Menschen offensichtlich immer noch erbärmlich mangelhaft."

Ob man diese und ähnliche Produkte nun für einen aufmerksamkeitsheischenden Marketing-Gag oder eine valide strategische Priorität der Konzerne hält, bleibt jedem selbst überlassen. Es scheint jedoch sicher zu sein, dass man das Schlagwort Metaverse so schnell nicht wieder aus dem Netz-Diskurs bekommt. Beständig werden neue Ideen ausprobiert, ohne so recht erklären zu können, was eigentlich der Nutzen sein soll.

Den ideologischen Überbau lieferte Marc Andreessen kürzlich in einem Interview. Der Mann ist, das muss man wissen, Chef der Vermögensverwaltung Andreessen Horowitz. Die verwaltet knapp 18 Milliarden Dollar an Kapital und bestimmt über Gestalt und Erfolg von Start-ups, digitalen Geschäftsmodellen und der Zukunft an sich. Andreessen sagte also, dass die Vorliebe für eine nicht digital vermittelte "Realität" Ausdruck eines "Realitätsprivilegs" ist. Seiner Ansicht nach fehle aber der großen Mehrheit der Menschheit aufgrund finanzieller Sicherheit jenes Privileg. Ihre Online-Welt, so Andreessen, werde "unermesslich reicher und erfüllender sein als der größte Teil der physischen und sozialen Umgebung um sie herum in der realen Welt". Und weiter: "Die Realität hatte 5000 Jahre Zeit, um gut zu werden, und ist für die meisten Menschen offensichtlich immer noch erbärmlich mangelhaft."

Man könnte jetzt darüber nachdenken, ob es nicht naheliegender wäre, erst mal die echte Realität zu verbessern. Oder ob es nicht eine neue Form von kolonialistischer Perspektive ist, dem ärmsten Teil der Menschheit eine VR-Brille überzustülpen, um sie aus ihrem Elend zu befreien.

Ohnehin ist es eher zweifelhaft, ob das Metaversum überhaupt die richtige Utopie ist. Das Wort stammt aus Neal Stephensons Roman "Snow Crash". Hier ist die virtuelle Realität aber mitnichten ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Sie dient der Unterhaltung und dem wirtschaftlichen Unterbau einer armen, verzweifelten Nation, die buchstäblich von Konzernen regiert wird. Einen schönen digitalen Körper hat dort nur, wer echtes Kapital im echten Leben oder die Kontrolle über die Codes des Cyberspace besitzt. Die Mittelschicht hat eine grobkörnige Auflösung, und die Armen flackern in Schwarz-Weiß. Die Klassengesellschaft wird einfach in der digitalen Entsprechung fortgesetzt.

Von holprigen Analogien hat man sich im Silicon Valley aber noch nie aufhalten lassen. Wesentlich bedenkenswerter ist aber sowieso die Tatsache, dass unsere Wahrnehmung der Welt zunehmend durch proprietäre Technologien vermittelt wird, die uns in immer raffiniertere Bereiche digitaler Simulationen eintauchen lassen. Die Erfahrung einer gemeinsamen Basisrealität mit anderen Menschen, auf die sich alle einigen können und deren (Natur-)Gesetze allgemeingültig sind, wird immer weiter aufgegeben. Wo das hinführt, kann man schon heute jeden Tag in den sozialen Medien beobachten. Es bleibt zu vermuten, dass es nicht besser wird, wenn die Nutzer noch dazu Scheuklappen in Form einer Virtual-Reality-Brille aufhaben.

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