Süddeutsche Zeitung

Netzkolumne:Virtuelle Graffiti

Eine neue App will die erste Plattform für "Augmented Reality" sein: Damit lassen sich virtuelle Bilder an echte Häuserwände zeichnen.

Von Michael Moorstedt

Die normale Realität hat ausgedient. An ihre Stelle tritt die Augmented Reality. Zeichentricktiere laufen durch die Wohnung, und in tristen Seitenstraßen öffnen sich Portale zu tropischen Tempelanlagen. Sichtbar ist all das nur durch das Display des Smartphones oder durch Spezialbrillen - die leider noch nicht existieren.

Bislang kam die Technik deshalb nicht über Ankündigungen hinaus. Das soll sich aber jetzt ändern. Eine Anfang des Monats vorgestellte neue App namens Mark AR behauptet von sich, der Welt erste "Augmented Reality Social Plattform" zu sein. Das Programm nutzt eine Google-Technologie namens Persistent Cloud Anchors, die virtuelle Inhalte sozusagen an einem Standort "verankern". Man kann also ein Bild oder einen Text an eine x-beliebige Hauswand zeichnen, andere Nutzer sehen das Werk dann, wenn sie die Wand durch ihr Smartphone-Display betrachten.

Mit Software-Werkzeugen, wie man sie aus Grafikprogrammen wie Photoshop kennt, kann man sich an der Wand verewigen, ohne Sachbeschädigung. Street-Art oder virtuelle Schnitzeljagden sind Anwendungsszenarien im Promotion-Video. Von einer Explosion der Kreativität ist da die Rede, im Kern funktioniert die App aber nach alten Mustern: Wer irgendwo ein digitales Kunstwerk erschaffen hat, kann den Standort mit seinen Followern teilen.

Die Entwickler wollen ihr Programm zunächst in einer Stadt testen, bevor sie es auf die restliche Welt loslassen. Und das ist wohl auch besser so. Denn es bleiben eine Menge Fragen offen. Was ist mit Spambotschaften? Mit Werbung? Geht die Unterscheidung zwischen echt und unecht irgendwann endgültig verloren? Ist sie überhaupt noch zeitgemäß? Und wer verhindert eigentlich, dass die Technologie missbraucht wird? Wie kann man Inhalte moderieren, die physisch an einen Ort gebunden sind - und nicht wie bisher üblich auf einer Webplattform wie etwa Facebook oder Twitter? Sollte man sensible Orte, wie etwa das Holocaust-Mahnmal, von der Möglichkeit ausnehmen, dort Bilder zu posten?

Mit dem der Tech-Branche eigenen Optimismus meint man beim Hersteller, dass es schon halb so wild werden wird. Weil sich die Menschen mit ihren Facebook-Accounts bei der App anmelden müssten, führe das zu größeren Hemmschwellen bei den Nutzern. "Ist die Welt wirklich bereit für virtuelle Graffiti", fragt dagegen das Technik-Portal The Verge. Die Antwort lautet: wahrscheinlich nicht. Wenn das Internet uns eines gelehrt hat, dann dass eine neue Anwendung zwei zwingende Folgen hat: neue Formen der Werbung und die Tatsache, dass sie für Hass und Schmäh missbraucht wird.

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Quelle:
SZ vom 21.10.2019
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