Süddeutsche Zeitung

Netzkolumne:Internet der Milliardäre

Seit Elon Musk angekündigt hat, dass er Twitter kaufen will, fliehen Nutzer aus dem sozialen Netzwerk. Aber wohin?

Von Michael Moorstedt

Wenn Jack Dorsey sagt, Twitter sei die Plattform, die "einem Weltbewusstsein am nächsten kommt", ist anzunehmen, dass er dabei ein wenig befangen ist. Immerhin hat er das Ding ja gegründet. So oder so stellten sich Millionen Nutzer in der vergangenen Woche die Frage, was passiert, wenn nun Elon Musk diesem Bewusstsein als möglicher Alleineigentümer eine Gehirnwäsche verpasst.

Eine gar nicht mal so steile These lautet, dass es nach der ersten Aufregung zumindest nicht zu einem Massen-Exodus der Nutzer kommt. Viele Menschen werden aus dem simplen Grund nicht aufhören, weil sie sich darum sorgen, wer ihnen ohne ihren Twitter-Account noch zuhören wird. Das Gefühl von Selbstwirksamkeit wird heutzutage in einem gewissen Milieu maßgeblich durch soziale Metriken wie Likes und Retweets bestimmt. Dieses Zögern, wenn der Mauszeiger über dem - tatsächlich - roten Knopf mit der Aufschrift "Deaktivieren" schwebt, hat weniger mit der Plattform und vielmehr mit den Menschen zu tun, die sich dort aufhalten: Inwiefern werde ich für die Welt außerhalb meiner Wohnung, meines Büros, meiner Familie noch von Bedeutung sein?

Ganz banal ausgedrückt, wer die letzten paar Jahre viel dafür gegeben hat, auf Twitter eine Gefolgschaft aufzubauen, wird die Plattform nun nicht einfach verlassen, egal wie moralisch derangiert der neue Eigentümer vielleicht sein mag. Stattdessen wird es in den meisten Fällen bei der öffentlichkeitswirksamen Ankündigung bleiben. In gewisser Weise bot die vergangene Woche ja genau die Form von Drama, für die der durchschnittliche Twitter-Nutzer überhaupt erst auf die Plattform kommt.

Nutzer können entweder abschalten, oder eben mit den Konsequenzen leben

In der Wirtschaftswissenschaft gibt es für dieses Verhalten den schwer übersetzbaren Begriff der Sunk Cost Fallacy, der besagt, dass entgegen jeder Vernunft unrentable Aktivitäten fortgeführt werden, weil eben schon so viel in sie investiert wurde. Bequemlichkeit sticht in den meisten Fällen die meisten Bedenken hinsichtlich freier Meinungsäußerung, Hassrede, Datenschutz und anderer eher gefühlter Werte.

Eine weitere flache These: Mastodon, das dezentrale Netzwerk, das nun allenthalben zur Alternative auserkoren wurde, wird nach einer kurzen Phase des Ansturms genauso verwaist bleiben wie zuvor. Seitdem die Story von Musks Übernahme-Versuch bekannt wurde, so Mastodon-Erfinder Eugen Rochko, hätten sich knapp 85 000 neue Nutzer angemeldet. Das ist zwar ganz nett, mit einer solchen Anzahl von Menschen lassen sich aber nicht die Netzwerkeffekte darstellen, die nötig wären, um eine relevante Öffentlichkeit herzustellen. Und selbst wenn es gelänge, verbliebe die Frage, wie man hier einen zivilen Diskurs moderiert. Zumal solche Wanderbewegungen nicht ungewöhnlich sind. Sogar das Blognetzwerk Tumblr, bis zum Verbot von sexuell expliziten Inhalten ein veritabler Konkurrent der heute bedeutsamen Plattformen, verzeichnete vergangene Woche einen Zuwachs der Neuregistrierungen um knapp 20 Prozent.

Um eine Alternative zu finden, muss man erst mal definieren, was Twitter heutzutage überhaupt ist und was der Nutzer selbst von ihm erwartet. Ist es ein globales Bewusstsein oder doch nur der sogenannte "De-facto-Marktplatz" der gesamten Welt, wie Musk selbst es formuliert hat. Und wer hat eigentlich behauptet, dass eine solche Instanz überhaupt erstrebenswert ist? Die Idee eines zentralen Feeds, in dem sämtliche Statusmeldungen, Nachrichten und Inhalte einlaufen. Wem nutzt die Monopolisierung des Diskurses? Was spräche dagegen, seine Präsenz im Netz wieder zu diversifizieren, aufzuteilen auf private Websites, Blogs, Foren und Chat-Apps? War das nicht sogar mal der hauptsächliche Anreiz des Internet?

Dezentrale und lokal gespeicherte Networking-Apps wie Manyver.se oder planetary.social bieten zwar einige gute Lösungsansätze. Sogar ein Comeback der zu Unrecht in Vergessenheit geratenen RSS-Technologie wäre vorstellbar. Nur muss irgendjemand ermöglichen, dass die Inhalte und Beziehungen, die man auf der einen Plattform aufbaut, nicht verloren gehen, wenn man zur Konkurrenz wechselt. Adversarial Interoperability lautet das ungelenke Schlagwort, das von Netzaktivisten schon seit Jahren gefordert wird.

Bis es so weit ist, müssen die Nutzer entweder abschalten oder mit der Konsequenz leben, die droht, wenn man öffentliche Interaktionen in die Hand von postmodernen Oligarchen und Unternehmensvorständen auslagert: Ein Internet der Milliardäre, in dem der Normalo-Nutzer nur noch zu Gast ist.

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