Netzkolumne:Geschichte von morgen

Netzkolumne: Wenn der Untergang ausgemachte Sache ist, gilt es nun also, zu retten, was noch zu retten ist bei Twitter.

Wenn der Untergang ausgemachte Sache ist, gilt es nun also, zu retten, was noch zu retten ist bei Twitter.

(Foto: Emmanuel Dunand/AFP)

Warum alte Tweets für Historiker wichtig wären, ihre professionelle Archivierung aber kaum möglich ist, zumal unter Twitter-Neubesitzer Elon Musk.

Von Michael Moorstedt

Die Stimmung auf Twitter hat sich gewandelt. Nach den Weltuntergangsszenarien, die in den vergangenen drei Wochen mit viel Liebe zum Detail ausgemalt wurden, erinnert das öffentliche Sentiment eher an eine Totenwache. Die Nachrufe sind schon geschrieben, und wie üblich hat die Verklärung bereits begonnen. Was war Twitter? Ein "Marktplatz der Meinungen", wie der neue Eigentümer es ausdrückte? Oder eher eine lokale "Absturzkneipe", wie es ein Nutzer schrieb, in der "einem entweder der Geldbeutel geklaut wird oder man die Liebe seines Lebens findet".

Fragt man Psychologen, dann erklären sie die Zeit der Trauer gerne mit einem Fünf-Phasen-Modell, bestehend aus Verleugnung, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Auf Twitter vollziehen sich die verschiedenen Stimmungen wenig verwunderlich im Schnelldurchlauf. Sprache und Kommunikation waren hier schließlich schon immer schneller und aggressiver als anderswo. Das Medium formte die Botschaft.

Hier wurden Aufstände geplant und Kriegsverbrechen dokumentiert

Wenn der Untergang also ausgemachte Sache ist, gilt es nun, zu retten, was noch zu retten ist. Und am besten fängt man mit den eigenen Beiträgen an. Wer Glück hat und in wessen Fall die automatisierten Systeme noch funktionieren, der bekommt innerhalb eines Tages einen komprimierten Ordner zugeschickt, in dem alle Handlungen, die man jemals auf der Plattform vollzogen hat, gespeichert sind. 35 Megabyte umfasst das Archiv im konkreten Fall. 818 Tweets, im Verlauf der letzten zehn Jahre knapp 1200-mal Gefällt-mir geklickt, sicherlich nicht das Profil eines Power-Users. Eine Mischung aus Eigenwerbung, öffentlichen Granteleien und tatsächlichen zwischenmenschlichen Interaktionen, die Twitter für viele Nutzer so besonders und spannend und irgendwann unverzichtbar gemacht haben. Was in dieser Zeitkapsel natürlich fehlt, sind die anderen. All die Stimmen und Nischen, die man mal gezielt und mal zufällig traf.

Die Bibliothek des US-Kongresses hatte es sich einmal zur Mission gemacht, Twitter in seiner Gänze zu archivieren. Das Projekt startete 2010, 2012 wurden täglich bereits eine halbe Milliarde Beitrage gespeichert. 2017 schließlich gaben die Archivare bekannt, das Projekt einzustellen. Zu groß war die Flutwelle, die täglich gespeichert werden musste. Seitdem beschränkt man sich in der Bibliothek auf ausgewählte Inhalte, von ohnehin bedeutenden Persönlichkeiten. Ähnlich, aber öffentlich zugänglich arbeiten Projekte wie Politwoops oder Polititweet, in denen die Botschaften der Mächtigen gespeichert sind, um sie zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Öffentlichkeit hat einmal mehr das Problem, dass der öffentliche Diskurs auf den Servern eines privaten Unternehmens gespeichert wird. Die gleichen Mechanismen konnte man beobachten, als andere einst unverzichtbare Online-Plattformen ihre Dienste eingestellt haben oder damit strauchelten. Doch während es bei Flickr, Myspace oder Geocities hauptsächlich um private Fotos, selbst aufgenommene Lieder oder erste Gehversuche mit Webdesign waren, ist Twitter ein zeitgeschichtliches Dokument, das in Echtzeit die großen Konflikte abbildet. Hier wurden Aufstände geplant, Kriegsverbrechen dokumentiert und Frontverläufe gekennzeichnet. Es wimmelt von bedeutenden Inhalten aus den letzten 16 Jahren, die den Historikern von morgen helfen könnten, die Welt von heute zu verstehen.

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