Netzkolumne:Die Sache mit dem Zyklustracking

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So sahen Smartphones bislang aus. Die Zukunft bringt aber keine Apps mehr, sondern künstliche Intelligenz. (Foto: Arun Sankar/AFP)

Wie Digitalkonzerne mit den Körpern der Menschen Geld verdienen - und warum das gefährlich werden kann.

Von Michael Moorstedt

Man solle sich Daten doch mal eben vorstellen wie ein Fläschchen Tinte, dessen Inhalt in einen See geschüttet wird. Sie fließt überallhin. Wie bringt man die Tinte nun wieder in die Flasche? Oder organisiert sie wenigstens so, dass sie nur an bestimmte Stellen im See fließt? Diese lyrische Metapher stammt aus der Feder einer Gruppe von Privatsphäre-Beauftragten des Meta-Konzerns (Facebook et al.) Die Tinte, das sind in diesem Sprachbild die Myriaden an Nutzerdaten, die der Konzern jeden Tag von den Anwendern seiner Apps und Plattformen sammelt. Der See ist die Welt.

Die Einschätzung der Lage kam Ende April durch ein Leak an die Öffentlichkeit. Weiter unten in dem Dokument wird es ein bisschen konkreter. Man habe kein angemessenes Maß an Kontrolle und Erklärbarkeit darüber, wie die eigenen Systeme Daten verwenden, und könne daher keine "kontrollierten Richtlinienänderungen oder externe Verpflichtungen eingehen, wie zum Beispiel 'Wir werden Datensatz X nicht für Zweck Y verwenden‛".

Die Daten werden verwendet, um herauszufinden, wer abtreiben lässt

Dafür, dass es sich um das Eingeständnis eines ziemlichen Totalversagens handelt, blieb die Resonanz erstaunlich gering. Das ist freilich oft so, wenn Privatsphärekatastrophen bekannt werden. Den Menschen ist zwar bewusst, dass sie es hier mit einem mehr als nur theoretischen Problem zu tun haben, in konkrete Handlungen mündet diese Erkenntnis aber nur in den seltensten Fällen. Das bisschen kognitive Dissonanz lässt sich schon aushalten, wenn man etwa gerade ein Shabby-Chic-Regal zusammenbauen will und die Wasserwaagen-App kompletten Zugriff auf das eigene Telefon verlangt. Man kann sich ja nicht um alles kümmern, oder?

Wie schnell es dann doch konkret werden kann, zeigt ein Beispiel aus der vergangenen Woche. Während in den USA der oberste Gerichtshof wohl daran arbeitet, eine Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht aufzuheben, wurde bekannt, dass Smartphone-Nutzerdaten gewinnbringend dazu verwendet werden, um Frauen zu identifizieren, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Wie das Tech-Magazin Motherboard berichtet, war es bis vor Kurzem möglich, bei dem Datenhändler Safegraph Aufenthaltsinformationen zu kaufen, die Einblick darüber geben, welche Gruppen von Menschen Abtreibungskliniken besuchten. Aus denen für wenige Hundert US-Dollar angebotenen Datensätzen ließe sich schließen, "woher die Besuchergruppen kamen, wie lange sie sich dort aufhielten und wohin sie anschließend gingen".

Auf Twitter berichten Frauen davon, dass sie Angst bekommen

GPS-Daten sind dabei längst nicht das einzige Mittel. Bereits in der jüngeren Vergangenheit wurden Fälle bekannt, in denen Schwangerschaften allein durch Internetsuchen korrekt identifiziert wurden - und den betroffenen Nutzern Anzeigen für Babykleidung ausgespielt wurden, noch bevor diese überhaupt die Schwangerschaft öffentlich gemacht haben. Wenn Werbetreibende allerdings vorhersagen können, wer schon einmal schwanger war, können sie wohl auch vorhersagen, wer nicht mehr schwanger ist oder wer noch schwanger sein sollte, und diese Informationen an diejenigen weitergeben, die bereit sind, für diese Informationen zu bezahlen.

Die im Internet gängige Technologie zur Ausspielung von Werbung ist ein hochpotentes Instrument, um Standortdaten, Suchbegriffe und zurückliegendes Verhalten zu erfassen und zu kombinieren, um Menschen anhand ihrer vermeintlichen Bedürfnisse und Nöte zu finden. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Motivation, bis diese Maschinerie eingesetzt wird, um andere Arten von Druck auf Menschen auszuüben, als sie nur zu Konsum zu ermutigen.

Auf Twitter berichten Frauen davon, dass sie Angst bekommen. Solidaritätsadressen wechseln sich mit Meldungen ab, entsprechende Apps zum Zyklustracking schnellstmöglich zu löschen. Doch, um noch mal die Ingenieursprosa aufzugreifen, die Tinte ist bereits im See verschüttet. Wenn bislang erlaubte Handlungen plötzlich für illegal erklärt werden und zusätzlich ein Gewinnanreiz besteht, die rückwirkend als kriminell eingestuften Personen strafrechtlich zu verfolgen, werden alle Daten - vergangene, gegenwärtige und zukünftige - vermarktet und ausgewertet. Schließlich sind im digitalen Kontext so gut wie all unsere täglichen sozialen Handlungen von parasitärer Werbetechnologie befallen. Sie ist das Fundament einer Industrie, in der das Leben und die Körper der Nutzer nicht mehr sind als Rohmaterial für die eigenen Wertschöpfungsketten.

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