Süddeutsche Zeitung

Netzkolumne:Live dabei

Lesezeit: 3 min

Die allgemeine Überwachung schreitet voran. Eine App mit dem Namen Citizen überträgt Verbrechen. Das mindert zwar das Gefühl von Sicherheit - gleichzeitig trägt es aber dazu bei, dass die Kriminalität abnimmt. Und eine Software hat alles im Griff.

Von Michael Moorstedt

In Manhattan findet eine Schießerei statt, ein paar Stunden später wird in Brooklyn eine alte Frau vermisst, währenddessen gehen in der südlichen Bronx ein Dutzend Leute mit Baseballschlägern aufeinander los. Eine mehr oder weniger normale Freitagnacht in New York City, könnte man meinen. Mit dem Unterschied, dass man heutzutage via Internet live dabei sein kann.

Eine App namens Citizen verspricht seit einiger Zeit, die Straßen von amerikanischen Großstädten wieder sicherer zu machen - indem sie Verbrechen live ins Netz sendet. Ganz so wie man es in den üblichen sozialen Netzwerken gewohnt ist, kann man die einzelnen Vorkommnisse mit zahlreichen Informationen anreichern, etwa mit einer genauen Ortsmarke oder einem von Passanten aufgenommenen Video. Dazu kommt noch eine Chatfunktion, um sich mit anderen Nutzern auszutauschen. Selbst Smileys sind erlaubt. Kurz: Citizen eignet sich perfekt, um sich ein bisschen vom sicheren Schreibtisch aus zu gruseln - und gleichzeitig sicherzustellen, dass es mit rechten Dingen vor sich geht.

Eine Software meldet verdächtiges Verhalten an die nächste Polizeiwache

In ihrem Ansinnen sind die Macher nicht allein. Das Netzwerk Nextdoor war mal als Plattform gedacht, auf der sich großstädtische Nachbarschaften miteinander vernetzen. Mittlerweile findet man hier die meiste Zeit reichlich fragwürdige Meldungen von "unbekannten Personen", bei denen es sich die meiste Zeit um unbescholtene Bürger handelt. Wohl nicht nur zufälligerweise haben die meisten von ihnen dunkle Hautfarbe. Gleiches gilt für Ring - die Firma stellt automatisierte Schlösser und smarte Videokameras her und wurde vergangenes Jahr von Amazon übernommen. Die hauseigene Social-Media-App namens Neighbors ist mittlerweile eine der ersten Adressen für digitales Denunzieren. Es ist ein bekanntes Phänomen: Durch vermehrte Berichterstattung von Verbrechen nimmt die gefühlte Sicherheit ab, während die amtlichen Statistiken seit Jahren kontinuierlich einen Rückgang verzeichnen. Wenn das Ganze nun live geschieht, erhält dieser Mechanismus einen Turbolader.

Richtig brisant wird es, wenn die Überwachung nicht nur per Hand ausgeführt wird, sondern automatisiert. Das Start-Up Flock Safety entwickelt mit KI-Software ausgestattete Kameras, die automatisch vermeintlich verdächtiges Verhalten in der Nachbarschaft identifizieren und dies dann ebenso automatisch an die nächstgelegene Polizeiwache melden. Das Unternehmen präsentiert ein paar Anekdoten, wie die Technologie dabei geholfen hat, einige Bagatelldelikte aufzuklären, doch der tatsächliche Nutzen ist eher zweifelhaft.

Wird Überwachung privatisiert? Längst interessieren sich nicht mehr nur Polizei und andere Sicherheitsbehörden, sondern auch Unternehmen und Privatpersonen für die Möglichkeiten, die moderne Überwachungstechnik und künstliche Intelligenz bietet. In Zukunft werden die eigenen Bewegungsspuren nicht nur im Netz nachverfolgt - was ja vom Gros der Nutzer ohnehin schon erwartet wird -, sondern auch im Offline-Dasein. Man ist nicht mehr Teil einer gesichtslosen Masse, sondern von Instanzen genau identifizierbar, deren Absichten nicht erkenntlich sind.

Ein paar Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit: Eine App namens Patronscan verspricht etwa, sämtliche Personen, die schon mal Hausverbot in einer Bar oder einem Restaurant erhalten haben, in einer privaten Datenbank zu speichern. Mit Foto-Abgleich und Ausweiskontrolle hätten so Tausende private Unternehmen Zugriff auf die Daten der Delinquenten, die in den meisten Fällen gar nicht wissen, dass sie Objekt der Kontrolle sind. Wiederum in New York wehren sich seit ein paar Wochen hunderte Bewohner eines Appartementgebäudes gegen die Pläne der Hausverwaltung, vor den Türen ein Gesichtserkennungssystem zu installieren, das darüber entscheidet, wer eingelassen wird und wer nicht.

Private Überwachung ist jetzt auch Endverbrauchern möglich

Die Bedenken sind legitim. Schließlich verschwinden die aufgezeichneten Bilder nicht einfach wieder. Sind die Aufnahmen einmal gespeichert, können sie für weitere Zwecke verwendet werden. Eine Proliferation der persönlichen Daten. Zuletzt wurde bekannt, dass die Bilddatenbank Ever eine Gesichtserkennungssoftware, die sie mit Fotos ihrer Mitglieder gefüttert hat, ohne deren Wissen an Strafverfolgungsbehörden verkauft. So würden die Nutzer, wie es ein Datenschützer ausdrückt, "unwillentlich in ein Überwachungssystem zwangsverpflichtet werden".

Derweil ist ein Einstieg in diese schöne neue Welt der privaten Überwachung auch dem Endverbraucher möglich. Amazon bietet seine Rekognition genannte Software für jedermann an - man braucht nur entsprechendes Datenmaterial, also ein Foto einer Person, das dann etwa mit den Aufnahmen von öffentlichen Webcams abgeglichen werden kann. Ein einminütiges Video nach Gesichtern zu durchforsten, kostet ganze zehn US-Cent. Ein Spottpreis für mehr Sicherheit.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4471265
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 03.06.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.