Netzkolumne:Nischen im Netz

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Wie viele 18-Jährige waren schon einmal in einem Plattenladen? (Foto: imago stock&people/Christian Grube)

Früher musste man sein Popwissen im Plattenladen beweisen. Und jetzt? Hat das Internet das kulturelle Kapital des guten Geschmacks zerstört?

Von Michael Moorstedt

Begänne man eine Liste von Dingen, an deren Niedergang angeblich das Internet schuld sei, würde sie den Platz dieses Textes mit Sicherheit sprengen. Vor kurzer Zeit kam ein neuer, nicht gerade kleiner Punkt auf der stetig wachsenden imaginären Liste hinzu.

Das Nutzererleben im Netz sei der Hauptgrund dafür, warum sämtlicher kultureller Output der vergangenen Jahre so unfassbar langweilig sei, schrieb unlängst Michelle Goldberg, Kulturkolumnistin bei der New York Times. Man habe es geradezu mit einer Stagnation zu tun. Die Songs, die in den angesagten Kaffeeläden das Hipsterpublikum einlullen, stammen aus den 1980er-Jahren, die Klamotten, die es trägt, hat man auch schon in unterschiedlichsten Dekaden in den Schaufenstern gesehen, und nicht zuletzt ist auch das, was sie in ihre Laptops schreiben, zeichnen und denken schon Hunderte Male so oder so ähnlich geschrieben oder gedacht worden.

Goldberg schreckte auch nicht davor zurück, mit der Sense einmal quer über die Diskurslandschaft zu mähen. Jedenfalls könne sie sich an "keinen aktuellen Roman oder Film erinnern, der eine leidenschaftliche Debatte ausgelöst hat". Der Streit über Kunst sei "abgestanden und wiederhole sich". Jetzt könnte man anmerken, dass auch die Klage über die vermeintlich so einfallslose Gegenwart nicht gerade zu den noch niemals gehörten Geistesblitzen zählt. Aber nun gut, wie lauten denn die Argumente?

Goldbergs diskursives Rüstzeug besteht im Wesentlichen aus einem kürzlich erschienenen Buch namens "Status and Culture". Hier beschreibt der Autor W. David Marx die kulturelle Evolution mehr oder weniger als eine Art Perpetuum mobile, das von dem Wunsch der Menschen angetrieben wird, in der sozialen Hierarchie aufzusteigen. Künstler erschaffen neue Positionen, um Status zu erlangen, und die Menschen passen unbewusst ihren Geschmack an, um entweder ihre Statusstufe zu signalisieren oder in eine neue aufzusteigen. Das Streben nach Distinktionsgewinn sei der Hauptkraftstoff für Kreativität.

Wenn der Wert des kulturellen Kapitals herabgesetzt wird, ist ökonomisches Kapital noch zentraler für die Bestimmung des Status

Durch das Internet war es nie einfach, Teil einer Szene zu werden. Früher - wann auch immer das eigentlich gewesen sein soll - musste man erst den Spießrutenlauf durch die Reihen verschiedenster Meinungsmacher und Gatekeeper über sich ergehen lassen, um irgendwann vielleicht mitreden zu dürfen. Dieser Marsch durch die Institutionen sei jedoch zwingend nötig, um eine Art von persönlichem Geschmack und satisfaktionsfähiger Meinung in die Köpfe zu ziselieren. Heute reicht es dagegen, einigen Youtube-Kanälen zu folgen oder Power-User in einschlägigen Foren zu sein, um sich einen Expertenstatus anzueignen, den man in noch so vielen Gesprächen mit den nerdigen Typen aus dem Plattenladen nicht hätte erreichen können.

Wenn der Wert des kulturellen Kapitals auf diese Weise aber herabgesetzt wird, schreibt W. David Marx, dann werde "ökonomisches Kapital noch zentraler für die Bestimmung des Status". Infolgedessen, sagt er, gibt es "weniger Anreize für Individuen, Kultur mit hoher symbolischer Komplexität zu schaffen". Wenn alles stets an der Oberfläche durchsuch- und auffindbar ist, könnten sich keine fruchtbaren Nischen bilden, in denen das Neue entsteht. Auf der anderen Seite gibt es ohnehin kein Establishment mehr, das man vor den Kopf stoßen könne. Weil jede noch so obskure Sub- oder Gegenkultur stets der Gefahr ausgesetzt ist, dass clevere Marketing-Heinis sie für die Kundenkommunikation nutzen und Unternehmen auf Twitter penetrant auf Augenhöhe mit dem Zeitgeist bleiben und mit Emojis und Metaebenen um sich schmeißen.

Schade ist, dass sowohl Goldberg als auch Marx es bei ihrer Abrechnung stets auf den einzelnen Kulturkonsumenten abgesehen haben - und dabei die zugrundeliegenden Mechanismen von Kulturproduktion im Internet übersehen. In dessen Belohnungs- und Anreizsystem ist die herbeigesehnte "leidenschaftliche Debatte" schlichtweg nicht von Interesse. Hochgespült wird, was sowieso schon populär ist. Die Sortieralgorithmen der großen Plattformen bestrafen aktiv eine Auseinandersetzung mit dem Abseitigen. Nischen bringen nun mal keine Klicks - und kluge Auseinandersetzung besteht in mehr als einem Retweet.

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