Süddeutsche Zeitung

Netzkolumne:Die Hybris von einst

Myspace gibt es nicht mehr. Nicht jeder wird mehr wissen, was das einst war: Es war einst die digitale Heimstatt für 100 Millionen meist jugendliche Nutzer, die sich allerdings nicht gegen die Giganten Facebook und Youtube behaupten konnte.

Von Michael Moorstedt

Normalerweise reagieren die Menschen im Netz nicht gerade mit Gleichgültigkeit, wenn sie das Gefühl haben, ihnen würde etwas weggenommen. Im Gegenteil, da wird dann aufgeschrien, mit Boykott gedroht und eine Hashtag-Kampagne nach der anderen abgefahren.

Ganz anders war das jedoch vergangene Woche. Da kam heraus, dass aufgrund einer fehlerhaften Servermigration ein Großteil der Dateien, die zwischen 2003 und 2015 auf die Plattform Myspace geladen wurden, gelöscht worden war. 50 Millionen Songs, Videos und Fotos einfach futsch, unrettbar verloren, niemals wiederherstellbar. Vieles davon war mit Sicherheit Mist, aber wer sagt eigentlich, dass nicht auch bislang unentdeckte Perlen darunter waren. Immerhin haben auf der Plattform Popstars wie die Arctic Monkeys oder Lily Allen ihren Durchbruch erlebt. Internet-Stars, Influencer, politische Online-Kampagnen, Fake News und viele andere Dinge, über die man sich heutzutage im Netz ärgert - alles fand dort seinen Anfang.

In seinen besten Zeiten war Myspace mal die digitale Heimstatt für mehr als 100 Millionen meist jugendliche Nutzer. Nachdem klar wurde, dass das Netzwerk der Konkurrenz von Facebook und Youtube nicht gewachsen war, wechselte es ein paar Mal den Besitzer, und jedes Mal war der Verkaufspreis ein wenig geschrumpft. Zuletzt fristete die Plattform im Portfolio des Medienunternehmens Meredith ein Untotendasein. Die Plattform war nur noch dazu da, die alten Daten seiner Nutzer gewinnbringend zu vermarkten.

Abgesehen von einer halbgaren Entschuldigung wegen der "Unannehmlichkeiten" äußerte sich das Unternehmen nicht zu dem Datenverlust. Diese Stille nährte bei manchem den Verdacht, es sei gar kein Unfall gewesen, und man habe sich nur aufgrund zu hoher Speicherkosten der Altlast entledigen wollen. Einmal mehr wird klar, dass wir nicht Herr unserer eigenen Daten sind, sobald wir sie einmal auf den Servern eines Unternehmens gespeichert haben.

Myspace war ein großes Ausprobieren von neuen Ausdrucksformen, erste Gehversuche in einem neuen Medium, dessen welterschütterndes Potenzial damals gerade erst klar wurde.

Vom Netz, das niemals vergisst, kann keine Rede sein. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass eine einstmals fast überlebensgroße Plattform die Daten ihrer Nutzer einstampft: 2009 war es Yahoo, die Geocities den Garaus machte. Ende der Neunzigerjahre war das so etwas wie ein Vorläufer der sozialen Netzwerke von heute, auch technisch unbedarfte Menschen konnten sich dort eine eigene Präsenz im Internet schaffen. 2015 war es das Netzwerk Friendster, das abgeschaltet wurde, 2016 machte Twitter sein Kurzvideoportal namens Vine dicht, und momentan ist auf der Foto-Plattform Flickr - noch so ein Relikt des frühen Web 2.0 - von einer großen Löschaktion die Rede, der Millionen von Aufnahmen zum Opfer fallen dürften.

Der Unterschied besteht darin, dass Nutzer und fleißige Mitarbeiter des Internet Archive in diesen Fällen, lange bevor das Ende kam, gewarnt wurden und ausreichend Zeit hatten, die Daten zu sichern. Trotzdem könnte gerade die Zeit der Nullerjahre für Historiker einst zu einem schwarzen Loch werden. Im aktuellen Fall ist der Verlust besonders schmerzhaft. Myspace war ein großes Ausprobieren von neuen Ausdrucksformen, dort sah man erste Gehversuche in einem neuen Medium, dessen welterschütterndes Potenzial damals gerade erst klar wurde.

Bemerkenswert war die Reaktion der Betroffenen. Abgesehen von mäßig witzigen Gags auf Twitter, die besagten, dass man gar nicht wusste, dass Myspace überhaupt noch existiert, war geradezu Erleichterung zu vernehmen. Viele Nutzer äußerten Scham über das, was ihr Teenager-Ich da so ins Netz gepostet hatte. Genauso wie man es früher ungern gesehen hätte, wenn die ersten ungelenken Poesie-Versuche für aller Augen öffentlich wären, war man froh, diese Episode hinter sich lassen zu können.

Wobei die Auseinandersetzung mit der eigenen Hybris der Vergangenheit ja auch eine nette Lektion in Demut hätte sein können, ein Anlass vielleicht, die eigene momentane Selbstgerechtigkeit mal ein wenig zu hinterfragen. Im Rückblick hält man sein damaliges Ich eben oft für einen Deppen. Nichts macht das so gnadenlos bewusst wie alte Eintragungen im Internet. Schade drum.

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Quelle:
SZ vom 25.03.2019
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