Netz-Depeschen:Tausendmal berührt

Es war nicht nur ein dramatisches Ereignis, 9/11 war auch dramaturgisch nervenaufreibend: Die tropfenartige Live-Berichterstattung zwischen Verwirrung und Entsetzen, die so oft gesehenen Videos einschlagender Flugzeuge, die weltweite Zerissenheit der Zuschauer dokumentiert nun ein beispiellos umfassendes Internetarchiv mehrerer TV-Sender.

Niklas Hofmann

Moderator Charlie Gibson verabschiedete sich kurz vor neun am Morgen des 11. September von Sarah, der Herzogin von York und schickte die Zuschauer von "Good Morning America" in eine Werbepause. Es war das Ende des posthistorischen Zeitalters, live im amerikanischen Fernsehen. Zurück kam Gibson mit den Bildern des brennenden Nordturms des World Trade Center.

Terrorangriff auf World Trade Center

LIve-Berichterstattung über die Anschläge auf das World Trade Center in New York: Verwirrung, Unglauben, Entsetzen.

(Foto: AP-SZ)

Den Fernsehtag des 11. September kann man nun in einem neuen, beispiellos umfassenden Online-Archiv rekapitulieren. Mehr als 3000 Stunden Programm von 20 Kanälen hat das Internet-Archive zum zehnten Jahrestag der Anschläge auf einer Seite mit dem Namen Understanding 9/11 aufbereitet. Sie hat die Adresse www.archive.org/911.

Das Internet-Archive ist eine nicht kommerzielle Einrichtung, die der Web-Pionier Brewster Kahle im Jahr 1996 ins Leben gerufen hat und die seither versucht, den gesamten Katalog an Internetseiten fortlaufend zu archivieren. Daneben betreibt sie die wohl reichste Online-Mediathek gemeinfreier Filme, Bild-, Audio- und Textdateien. Und schon Ende 2000 begann Kahles Archiv auch damit, das Programm von 20 Fernsehsendern rund um die Uhr in DVD-Qualität mitzuschneiden, angespornt von der Idee, auch das flüchtige Referenzmedium Fernsehen für Recherche zu konservieren.

So konnte es schon im Oktober 2001 ein Archiv mit dem Programm von sechs Sendern (den großen US-Kanälen ABC, CBS und NBC, den Nachrichtensendern CNN und Fox News und der britischen BBC) vom 11. bis zum 13. September online stellen. Ein Grundstock, der, Jahre vor dem Start von Youtube veröffentlicht, auf der nun gestarteten Seite noch einmal erheblich erweitert wurde. Das neue Archiv umfasst Bilder einer ganzen Woche und Material internationaler Sender aus dem Irak, Frankreich, China und Mexiko. Ein deutscher Sender fehlt.

Man sieht die nüchterne Nachrichtenroutine des chinesischen Staatsfernsehens, die emotionale Ergriffenheit russischer Reporter und bestaunt die Erklärversuche des japanischen NHK am Sperrholzmodell der Zwillingstürme, kann kommunikationswissenschaftliche wie historische Studien treiben oder nach Material für 9/11-Verschwörungstheorien wühlen.

Vor allem aber gewinnen in ihrem originalen Kontext von Verwirrung, Unglauben und Entsetzen all jene Bilder, die in zehn Jahren so unendlich wiederholt worden sind, etwas von ihrem ursprünglichen Schrecken zurück. Und machen so das Archiv zu einem digitalen Gedenkort.

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