Netz-Phänomene:Ich sehe was, damit du mich siehst

Netz-Phänomene: Oh, er erschießt ihn! Childish Gambinos Reaktionsvideo auf den Clip „This Is America“ von Donald Glover.

Oh, er erschießt ihn! Childish Gambinos Reaktionsvideo auf den Clip „This Is America“ von Donald Glover.

(Foto: Youtube)

Warum filmen Menschen ihre Reaktion auf schockierende Videos?

Von Jonas Lages

Als das schreibende, rappende und schauspielernde Multitalent Donald Glover sein mörderisches Musikvideo "This Is America" über die mediale Wahrnehmung von Rassismus und Waffengewalt ins Netz schoß, fanden sich auf YouTube in Windeseile zahlreiche so genannte Reaktionsvideos. Das sind Videoschnipsel, in denen sich Menschen dabei filmen, wie sie Filme sehen und darauf reagieren. Und reagiert wird auf alles, was gerade viral geht. Vor allem auf Musikvideos.

Gleich zu Beginn von Donald Glovers Video tänzelt er an den Mann heran, der zuvor Gitarre spielte, und ermordet ihn mit einem Kopfschuss. Es folgt die Zeile: "This is America". Es ist sind genau solche Momente, von denen Reaktionsvideos leben: Überraschungs- und Schockmomente. Imitierten viele YouTuber zunächst noch Glovers Bewegungen, sah man wenige Sekunden später den Schrecken auf ihren Gesichtern. Es gibt millionenfach gesehene Best-of-Videos, in denen man nacheinander zwanzig verschiedenen Personen dabei zusehen kann, wie sie auf diese Szene aus dem Musikvideo reagieren.

Insofern scheint dieses Untergenre der Video-Blogs zunächst einfach nur eine weitere Spielart der Feedback-Schleifen des Internets zu sein. Während man aber sonst auf Twitter und Facebook die eigenen Reaktionen meist als Kommentare aufschreibt, leben diese Videos von der spontanen, unmittelbar physischen Reaktion. Sie sind im Grunde eine Affektenlehre des YouTube-Zeitalters - Freude, Ekel, Furcht, Mitleid - und demonstrieren so - oder wollen demonstrieren, warum gewisse Videos eine solche Reichweite bekommen.

Das Ganze ist also ganz wunderbares digitales Meta-Theater. Denn selbstverständlich werden auch die Videoreaktionen kommentiert. Es gibt sogar Videos, in denen auf Reaktionsvideos reagiert wird, die wiederum kommentiert werden.

Andererseits wird es spätestens nach der dritten Variante ziemlich eintönig, schließlich ähneln sie sich alle. Und so ist die dialektische Pointe des Reaktionsvideos gerade die riesige Diskrepanz zwischen Ursache und Wirkung. Während diese Videos überhaupt erst entstehen, weil es andere virale Videos gibt, die von ihren Überraschungsmomenten leben, sind die darauf folgenden Reaktionsvideos selbst komplett vorhersehbar. Mit anderen Worten: Videos, die der Logik des viralen Videos widersprechen, gehen viral, weil sie im Windschatten des Viralen vegetieren.

Warum setzen sich Leute also vor ihren Laptop, um anderen Leuten dabei zuzusehen, wie sie vor ihrem Laptop sitzen und Videos sehen, die sie selber schon gesehen haben? Wird da eine Gemeinschaft des kollektiven Sehens wiederhergestellt, wie es einst das Kino garantierte? Das wäre die romantische Lesart, auch wenn künftige Historiker ihren Schülern an den Reaktionsvideos demonstrieren können, wie sich die Blickachse der Zuschauer vom Himmel (Kino) über den Horizont (Fernsehen) auf die Erde senkte (Laptop, Tablet).

Vielleicht schaut man diese Reaktionsvideos aus dem Wunsch nach Bestätigung an. Um die eigene Begeisterung zu teilen. Auch wenn das zu Sehende vergangen ist, kann man einen Moment lang die Überlegenheit des Wissenden genießen, ein Gefühl, das im Gewitter der Push-Nachrichten selten geworden ist. Und dann kommt der Kick der Ich-hab's-dir-doch-gesagt-Genugtuung: "Siehst du, das Video ist on fire." Weiter zum nächsten Reaktionsvideo.

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