Süddeutsche Zeitung

Netz-Depeschen:Zurück in die Zukunft

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Noch bevor Sie nach Hause kommen, können Ihre Schuhe mit dem Teppich reden und die Lieferung ihrer persönlichen Nachrichten an Ihre Brille vorbereiten: Eine Seite sammelt frühere Visionen des Internets.

Niklas Hofmann

Die Zukunft vorherzusagen ist eine notorisch undankbare Aufgabe, denn die Gefahr, schon auf die recht unmittelbare Nachwelt bloß noch komisch zu wirken, ist für den fantasievollen Optimisten genauso groß wie für den pessimistischen Skeptiker. Das gilt für Nicholas Negroponte, der sich 1995 im Magazin Wired eine nahe Sci-Fi-Computer-Zukunft ausmalte ("Wenn Sie nach Hause kommen, können Ihre Schuhe, noch bevor Sie den Mantel ausziehen, mit dem Teppich reden, um die Lieferung Ihrer personalisierten Nachrichten des Tages an Ihre Brille vorzubereiten"), wie für den Astronomen Clifford Stoll, der im selben Jahr glaubte, die Luft aus dem Internet-Hype lassen zu müssen: "Ich glaube nicht, dass Telefonbücher, Zeitungen, Zeitschriften und Videotheken verschwinden, nur weil sich Computernetzwerke ausbreiten."

Diese und andere Prognosen finden sich auf den Seiten des Projekts "Imagining the Internet", das die in North Carolina ansässige Elon University und das Pew Research Center betreiben. Man sammelt dort aktuelle und vergangene Zukunftsvisionen des Internets, und hat dabei den Jahren 1990 bis 1995, der formativen Zeit des Webs, mit Zitaten aus Artikeln, Büchern, Vorträgen und, ja auch schon, Internetseiten jener Ära einen eigenen Bereich gewidmet.

Nicht nur dort zeigt sich, dass mancher Blick nach vorn im Rückblick aber auch erstaunlich scharf ist. Der Wissenschaftsjournalist Ira Flatow moderiert den "Science Friday", eine Call-In-Sendung, die der öffentliche US-Senders National Public Radio seit bald zwanzig Jahren ausstrahlt. Mit einem Griff ins Archiv hat er nun eine Sendung aus dem Jahr 1993 über die Zukunft des Internets zu Tage gefördert, die zugleich das erste Programm war, das jemals live im Internet gestreamt wurde. Wer sich die Sendung auf sciencefriday.com nun noch einmal anhört, mag sich über manche naive Hörer-Frage amüsieren. Frappierend ist aber vor allem, wie exakt Flatow mit seinen Gästen, den Web-Aktivisten Carl Malamud und Brewster Kahle für ein Laienpublikum bereits die Probleme umrissen hat, die bis heute die Diskussionen um das Netz prägen, und wie wenig sie ihre Antworten heute revidieren müssten.

Ihre Themen reichten von der Angst vor der Vereinsamung im Netz, über die kognitive Bewältigung der Datenflut (Malamud: "Das Wichtigste ist es, zu lernen Informationen zu ignorieren") bis zur Sorge, wie sich online Information von Fehlinformation und Desinformation unterscheiden lasse. Auch die Folgen des Internets für das Urheberrecht wurden bereits bedacht. Und mittendrin kommt einem Hörer aus Pasadena eine verwegene Idee: Er höre so gerne Musik, da könnte man doch in Zukunft vielleicht direkt zu Sony oder einer anderen Plattenfirma gehen, ein Lied herunterladen und dafür die Kreditkartendaten hinterlegen? Vielleicht hätte man 1993 bei den großen Musikkonzernen einfach mehr Radio hören sollen.

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Quelle:
SZ vom 29.11.2010
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