Netz-Depeschen:Morgenluft twittern

Juni 2009 war der Sommer der 140 Zeichen, nicht nur Journalisten glaubten fest an die entscheidende Bedeutung des Mikroblogging-Dienstes Twitter für die Protestbewegung im Iran. War das übertrieben?

N. Hofmann

Bertolt Brecht sollen die Iraner durchaus schätzen, und so hatte es besonderen Charme, dass es für einige Tage im Juni 2009 so aussah, als sollte ausgerechnet im Land des Mullah-Regimes seine utopische Radiotheorie ihr revolutionäres Potential entfalten. Jeder Twitter-Empfänger schien auch ein Sender zu sein, fähig, in Brechts Sinne "den Mächten der Ausschaltung durch eine Organisation der Ausgeschalteten begegnen". Es war der Sommer der 140 Zeichen. Mit dem Titel "Der Iran twittert plötzlich Morgenluft" überschrieb damals die Welt einen Artikel über den "digitalen Aufstand", der in Teheran ausgebrochen sei. Als "das Medium der Bewegung" feierte das Time Magazine den Kurzmitteilungsdienst. Von der Twitter-Revolution sprachen fast alle westlichen Medien.

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Wie wichtig war Twitter denn nun für die Proteste im Iran? Das Bild zeigt eine Demonstration zum ersten Jahrestag der Ereignisse vor der iranischen Botschaft in Italien.

(Foto: afp)

Nicht nur Journalisten glaubten fest an die entscheidende Bedeutung des Mikroblogging-Dienstes für die Protestbewegung. Das State Department drängte Twitter dazu, anstehende Wartungsarbeiten zu verschieben, um den Kurznachrichtenstrom in Iran nicht abreißen zu lassen. Ein früherer Berater von Präsident Bush hielt Twitter gar des Friedensnobelpreises für würdig. Eine solche Ehrung ist genau ein Jahr nach der umstrittenen Präsidentenwahl in Iran in weite Ferne gerückt. Die Twitter-Skeptiker dagegen melden sich vernehmlich zu Wort. Hamid Tehrani, Chef des persischen Zweigs im Blogger-Netzwerk Global Voices, sagte dem Guardian zum Jahrestag, Twitter habe sicherlich eine Rolle gespielt, "aber seine Rolle wurde zu stark betont".

Die für Radio Free Europe/Radio Liberty tätige Journalistin Golnaz Esfandiari meldet in Foreign Policy ebenfalls ihre Zweifel an. Ihr Schluss aus Gesprächen mit Irans Aktivisten: Für die Organisation der Proteste spielte Twitter so gut wie keine Rolle. Bei einem Blick auf die Zahlen überrascht das kaum. Die Autoren Annika Wong und Charles Leadbeater errechneten für das British Council, dass 2009 höchstens 0,082 Prozent der iranischen Internetnutzer und nur 0,027 Prozent der Gesamtbevölkerung auf Twitter aktiv waren, 93 Prozent von ihnen aber in der Hauptstadt. Mitgerechnet sind dabei noch Tausende ausländische Nutzer, die aus Solidarität die Wohnortangabe in ihrem Twitter-Konto auf "Teheran" umgestellt hatten.

Ein wenig gewichtiger war wohl die Rolle von Twitter als Kanal zur Außenwelt. In einer Phase, in der ausländische Journalisten in Iran massiv an ihrer Arbeit gehindert wurden, war Twitter das Medium, das der Welt zumindest einen Eindruck von den Vorgängen im Land vermittelte. Akkurat war dieser Eindruck aber nicht immer. Viele Ereignisse wurden nach Ansicht der Kritiker bei Twitter dramatisch überzeichnet, Teilnehmerzahlen von Demonstrationen oft maßlos übertrieben. Möglich, dass den Protesten auch darum im Westen eine Kraft zugetraut wurde, die sie in Wahrheit nicht erreichen konnten. Und auch von den Herrschenden gestreute Gerüchte kamen in Umlauf. "Twitter", schreibt Esfandiari, "kann den Zwecken des iranischen Regimes genauso dienen, wie es den Aktivisten des Landes helfen kann."

Matthew Weaver misst im Guardian anderen Internet-Diensten höhere Bedeutung bei. Etwa YouTube, wo unzählige mit Mobiltelefonen gedrehte Filme der Proteste und der Repressionen eingestellt wurden. Nicht alle sind zu verifizieren, auch hier fand sich viel Desinformation. Doch ohne den Videokanal wäre das Bild der sterbenden Neda Agha-Soltan kaum zu einer Ikone der grünen Bewegung geworden, deren propagandistische Wirkung kaum zu überschätzen ist.

Und vielleicht ist es auch im Umgang mit Twitter angemessener, es so zu halten, wie Davar Iran Adarlan vom amerikanischen National Public Radio, die im letzten Sommer die Tweets des Studenten Parham Baghestani nicht ihres Informationsgehalts, sondern ihrer poetischen Kraft wegen pries. Für sie ist Twitter nicht Nachrichtenquelle, sondern "Rohmaterial für kreatives und kollaboratives Erzählen".

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