Süddeutsche Zeitung

Netz-Depeschen:Elektronisches Kalkül

Ein Verlag will, dass seine E-Books in Bibliotheken genau 26 Mal ausgeliehen werden können - und dann gesperrt werden. Der Grund: Das sei die Lebensdauer eines Papierbuchs.

N. Hofmann

Die Öffentliche Bibliothek von Norman, Oklahoma, ein flacher Zweckbau an einer staubigen Durchgangsstraße, ist nicht eben ein Tempel der Bücher. Aber auch in den Great Plains hält man das gedruckte Wort in Ehren. Bibliothekarinnen zeigen in einem auf der Seite BoingBoing.net verlinkten YouTube-Video Bücher aus ihren Beständen, die etwa 50 bis 120 Mal ausgeliehen wurden und sich noch in sehr lesbarem Zustand befinden.

Ginge es nach dem Verlagshaus Harper Collins, aus dessen Programm die gezeigten Bücher stammen, hätte die Bibliothek in Norman sie zum Teil schon mehrfach neu erwerben müssen. Nicht in Papierform, aber (jedenfalls in Zukunft) in ihrer digitalen Version als E-Books. Ende Februar wurde aus einem Rundschreiben des E-Book-Vertriebs Overdrive an US-Bibliotheken bekannt, dass ein zunächst ungenannter großer Verlag - Harper Collins, wie sich herausstellte - sein Digital Rights Management (DRM) so umstellen werde, dass E-Books in den Bibliotheksbeständen nicht mehr gelesen werden können, sobald sie 26 Mal ausgeliehen wurden.

Gerade aktuell begehrte Bestseller könnten so schon nach wenigen Monaten ablaufen. Man wolle "den Wert, den Bibliotheken durch unsere Titel bekommen, mit der Notwendigkeit in Ausgleich bringen, unsere Autoren zu schützen", teilt der Verlag mit. Die Festlegung auf 26 Ausleihen begründete man unter anderem mit der durchschnittlichen Lebensdauer eines Papierbuchs.

Das Video der Bibliothekarinnen aus Norman zeigt (natürlich nur anekdotisch), dass Harper Collins den Fähigkeiten der eigenen Buchbinder offenbar schwer Unrecht tut. Zwar hat Verlags-Vorstand Josh Marwell inzwischen erklärt, dass Nachkäufe zu reduzierten Preisen wie auf dem Taschenbuchmarkt möglich sein sollten. Dennoch sind Amerikas Bibliothekare, gemeinhin kein besonders umstürzlerisch gestimmtes Völkchen, nun in Aufruhr.

Immer mehr Leihbibliotheken schließen sich einem online gestarteten Boykott gegen Harper Collins an. Overdrive, über das viele Bibliotheken ihre E-Books beziehen, hat Bücher des Verlags vorläufig aus dem Programm genommen. Die American Library Association hält sich mit einer offiziellen Stellungnahme bislang zurück, weil sie den Ergebnissen einer schon länger beratenden E-Book-Taskforce nicht vorgreifen will. Aber ihre Präsidentin Roberta Stevens ermunterte auf ihrer Facebook-Seite die Bibliothekare: "Danke, dass ihr den Mund aufmacht."

Leicht haben es die Bibliotheken mit den E-Books ohnehin nicht. Sie zahlen mehr für die elektronischen Titel als Privatkunden. Sie sind auch daran gebunden, nur jeweils einem Leser Zugriff auf die E-Book-Datei zu gewähren. Und der Platzhirsch Amazon ermöglicht das Lesen von Bibliotheks-Büchern auf seinen Kindle-Geräten gleich gar nicht.

Der Fall rührt auch an das grundsätzliche Problem, dass die Verlage durch DRM-Systeme den Markt der elektronischen Bücher so zu gestalten gedenken, dass nicht mehr Eigentum, sondern ein mehr oder weniger stark beschränktes Leserecht erworben wird. Die Website irights.info, in Deutschland die beste Anlaufstelle zu Fragen des Urheberrechts in der digitalen Welt, weist auf den Entwurf einer "Bill of Rights der E-Book-Leser" hin, den anlässlich der Harper-Collins-Debatte die Bloggerin und Bibliothekarin Sarah Houghton-Jan verfasst hat.

Sie formuliert vier Grundrechte, die irights.info so zusammenfasst: "Lizenzen, die statt Beschränkungen Zugang ermöglichen; das Recht, E-Books auf selbstgewählter Hard- und Software nutzen zu können; das Recht auf Notizen, Zitate und Drucken sowie das Teilen von Inhalten im Rahmen des Fair Use; das Recht auf dauerhaftes Speichern, Archivieren, Teilen und Wiederverkaufen."

Auf Bibliothekarisch.de ist die Bill of Rights in deutscher Übersetzung zu finden. Vielleicht wird sie einmal zum Ur-Dokument der glorreichen E-Book-Revolution erklärt.

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SZ vom 07.03.2011/tolu
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