Netz-Depeschen:Die Gedanken sind flach

Die Bedrohung des Hyperlinks: In den USA streiten Forscher darüber, ob Google uns dumm macht - der Wissensüberfluss aus dem Internet soll das menschliche Gehirn auf Dauer überfordern.

Michael Moorstedt

Tippe nur einen Buchstaben, und ich weiß, was du wissen willst. So lautet das Versprechen von Google Suggest, der automatischen Vervollständigungsfunktion der Suchmaschine. Für Nicholas Carr sind die aus einer Datenbank der am häufigsten verwendeten Suchbegriffe gespeisten Vorschläge jedoch keine Erleichterung. Vielmehr fühlt sich der amerikanische Publizist, als ob der Algorithmus versuche "meine Gedanken zu lesen". In der aktuellen Ausgabe des Magazins The Atlantic schildert er sein Unbehagen gegenüber der Bevormundung im Gewand vermeintlicher Nutzerfreundlichkeit. Der Nutzer bewege sich nur noch auf einem von Programmierern vorgezeichneten Pfad. Die Entscheidung, welchem Link er folgt, sei nicht mehr seine eigene.

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Verflachung mit System? Der Netz-Kritiker Nicholas Carr vermutet, dass das multi-tasking geplagte Gehirn mit ständiger Zerstreutheit reagiert.

(Foto: ag.dpa)

Carr ist einer jener Netz-Kritiker, die ihren Unmut vor allem in einem eigenen Blog kundtun. Unter seinesgleichen gilt er als einer der ausdauerndsten, er ist ein Mann mit einer Mission. In der vergangenen Woche erschien sein Buch "The Shallows. What the Internet is doing to our brains". Die Kernthesen: Auf die Überforderung durch das Echtzeit-Netz reagiert das multitasking-geplagte Hirn mit ständiger Zerstreutheit. Irreversibel sei diese Oberflächlichkeit und darum der Wissenskonsum in Form von Gedrucktem das Maß aller Dinge. Hauptschuldiger ist - neben den üblichen Verdächtigen Twitter, Facebook und Google - der Nutzer selbst: "Wir wollen unterbrochen werden, weil jede Unterbrechung ein neues Stückchen Information verspricht", so Carr. In der aktuellen Ausgabe von Wired wendet er sich auch direkt an die Betroffenen. Darin schlägt er unter anderem vor, dass Nachrichtenseiten und Blogs sämtliche URLs künftig an das Ende ihrer Texte setzen sollten, um den Lesefluss nicht zu stören. Der Hyperlink als Fußnote.

Mit dem Text im Atlantic setzt Carr den vorläufigen Schlusspunkt einer Debatte, die er selbst angestoßen hat, nachdem er 2008 seinen viel beachteten Essay "Is Google making us stupid" eben dort veröffentlichte. Carrs Bedenken haben sich seither kaum geändert. Doch die einst sachlich geführte Debatte ist längst zu einem Glaubensstreit geworden. Wo es opportun erscheint, führen Carr und seine Kritiker-Kollegen Neurologen und ihre Forschungsergebnisse ins Feld. Die gegnerische Seite der Netz-Apologeten kontert mit eigenen Wissenschaftlern und Studien. Auch Polemik scheint ein probates Mittel zu sein. In diesem Sinne gibt Steven Pinker, Professor für Psychologie in Harvard, in der New York Times Entwarnung vor dem Web. Immerhin habe es die Angst vor der Verflachung auch schon während sämtlicher früheren Medienrevolutionen gegeben, sei es bei der Einführung von Zeitungen, Fernsehen oder der Druckerpresse. Und trotzdem explodiere die Wissensproduktion.

Carr ließ nicht lange auf eine Widerrede warten, die er diesmal auf dem Wissenschaftsportal edge.org veröffentlichte und hat damit vorerst das letzte Wort. Die Fehde dauert an, und Erkenntnisse über den tatsächlichen Schaden an unseren Hirnen bleiben weiter diffus. Nur wenige Kommentatoren zeigen sich so entspannt wie der Netz-Optimist Clay Shirky, der angesichts des Information Overload unlängst eine neue Form von Lesekompetenz forderte. Diese hängt aber nicht von den Trägermedien ab, sondern vor allem von einer genaueren Einstellung der eigenen Filter und braucht eben ihre Zeit. Zumindest Google Suggest kann schon mit einem Mausklick deaktiviert werden.

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