Süddeutsche Zeitung

Netz-Depeschen:Das System schlägt zurück

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Über eine Million geheime Dokumente soll die Internetplattform Wikileaks verfügen. Doch derzeit mehren sich Gerüchte, die investigativen Hacker hätten sich illegaler Recherchemethoden bedient.

Michael Moorstedt

Es hätte so nett werden können. Da veröffentlichte der New Yorker in der vergangenen Woche ein elfseitiges Porträt eines Mannes, der ein Star ist, sich in den Jahren zuvor aber vornehmlich in Geheimniskrämer-Dünkel kleidete. Julian Assange ist Gründer oder Betreiber, so genau hat er sich da immer noch nicht festgelegt, der Whistleblower-Plattform Wikileaks. Er erschien durchaus sympathisch.

Vor zwei Monaten veröffentlichte die Website ein im Juli 2007 aufgenommenes Video, das den Beschuss einer Gruppe von irakischen Zivilisten, darunter auch zwei Reuters-Mitarbeiter, durch einen Hubschrauber der US-Armee zeigt. Zwölf Menschen wurden getötet. Kurze Zeit zuvor war man noch vom Bankrott bedroht. Im letzten halben Jahr aber reihte sich ein Scoop an den anderen. Darunter eine Chronik der Kommunikation der New Yorker Sicherheitskräfte am 11. September oder der Feldjäger-Bericht zu den Kundus-Bombardements.

Beinahe verloren ging im Wikileaks-Psychogramm ein Absatz, der sich mit den Anfängen der Plattform befasste. Bereits zum Start 2006 sagte Assange, man verfüge über eine Million geheimer Dokumente. Diese Datenmenge, so der New Yorker, war jedoch nicht dem Zusammenspiel von Informanten und Journalisten zu verdanken, sondern wohl dem Anonymisierung-Netzwerk Tor. Laut Assange war ein befreundeter Aktivist, der einen Tor-Knoten betrieb, auf den Datenverkehr chinesischer Hacker aufmerksam geworden, die geheime Dokumente aus dem Ausland sammelten, und schnitt ihn mit. Zwei Schockmomente beinhaltet der undurchsichtige Nebensatz. Zum einen wunderten sich die Kommentatoren über die Verwundbarkeit des Tor-Netzwerks. Zum anderen über den Vorwurf, dass sich Wikileaks illegaler oder zumindest unmoralischer Recherchemethoden bedient haben soll.

Vertrauen gilt im Internet nicht viel. Doch spätestens seit dem Irak-Video waren die Wikileaks-Betreiber die Helden der Netzgemeinde. Eine Seite, für die Wahrheit und der freie Zugang zu Informationen nicht ein weiteres Geschäftsmodell sondern ein verteidigenswertes Gut war. Und tatsächlich schien die Website mit ihrem Hybrid-Modell aus Aktivismus, Hacker-Kultur und investigativem Journalismus perfekt als Aufklärer-Instanz geeignet. Nun machen sich Bedenken breit unter den hypermisstrauischen Digital Natives. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil ein Teil der Gemeinschaft auch die eigene Korrespondenz über die Server von Tor laufen lässt.

Auf Kritik der tradierten Medien hat man bei Wikileaks schon immer recht dünnhäutig reagiert. So auch in diesem Fall - im eigenen Twitter-Feed wird alles dementiert. Gegenbeweise bleibt man aber schuldig und kehrt zurück zur Taktik der Verschwiegenheit und Konspiration. Bezeichnenderweise wurde der Hinweis auf die eigene "komplette Neutralität" schon vor geraumer Zeit aus den Wikileaks-FAQ entfernt. Es scheint fast, als kopiere Wikileaks die Attribute des Systems, das man sich einst zu bekämpfen geschworen hat.

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Quelle:
SZ vom 07.06.2010
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